Salingers Stahlwaren

Ein idealer Comic für Menschen, die sonst lieber Romane lesen: Der junge amerikanische Zeichner Jason Lutes hat mit „Berlin. Steinerne Stadt“ eine Sinfonie der Großstadt in Comicform komponiert

von EKKEHARD KNÖRER

Er mache, hat Jason Lutes einmal halb kokett gesagt, seine Comics für Leute, die keine Comics lesen. Das ist, so viel ist sicher, eine marktstrategisch ungünstig gewählte Zielgruppe. Lutes aber meint es ernst, und zwar vor allem damit, den Comic als eine Kunst zu betrachten, mit der man anstellen kann, was sich mit den anderen narrativen Künsten auch anstellen lässt. Nicht nur im frankobelgischen Raum, sondern auch in Amerika sollte es doch endlich möglich werden, Geschichten zu erzählen, die an die Komplexität und die Themen des Romans herankommen! Die Rede vom Roman oder der graphic novel ist dabei nur eine Verlegenheit, zuvörderst geht es jungen Comic-Künstlern wie Lutes um die mediale Eigenständigkeit des Comics, um sein Formpotenzial. Schluss mit den Superhelden, Verzicht auf Enten und funny animals. Stattdessen seriöse Sujets und Darstellungsformen, die aus den spezifischen Möglichkeiten des Mediums, also der Grammatik der Bild-und-Text-Panels, gewonnen sind.

Derjenige, der es vorgemacht hat mit dem Ernst und der Kunst, war Art Spiegelman mit seinem Pulitzer-Preis-gekrönten Holocaust-Comic „Maus“. Als Titelbild-Provokateur des New Yorker, als Cartoonist der Zeit, als einer, dessen Werk im Museum of Modern Art und im Berliner Martin-Gropius-Bau ausgestellt wird, hat er inzwischen das Publikum, das Lutes sich wünscht. Wenn nun der amerikanische Comic, wie Spiegelman immer wieder behauptet, tatsächlich dabei ist, sich endgültig vom Massenphänomen zur Neunten Kunst zu entwickeln, dann ist Jason Lutes’ historische graphic novel „Berlin“ eines der besten, weil ambitioniertesten und gelungensten Beispiele dafür.

Verblüffend ist der Gegenstand, denn mit Berlin verbindet Jason Lutes, der 1967 in New Jersey geboren wurde und heute in Seattle lebt, biografisch gar nichts. Ja, er hat die Stadt zum ersten Mal besucht, als die ersten Hefte seines Werks längst erschienen waren. Nun ist das Berlin der späten Zwanzigerjahre und der frühen Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts allerdings auch für seine heutigen Bewohner eine fremde Welt. Lutes wählt mit Bedacht genau den Punkt, an dem die Stadt sich vom Laboratorium der Moderne ins Laboratorium eines katastrophalen Scheiterns verwandelt. Demonstrationen, Aufmärsche, Kämpfe zwischen Kommunisten und nazistischen Schlägertrupps bilden zunehmend den Hintergrund der Geschichten. Das Berlin, das Lutes entwirft, ist so einerseits gewiss ein Kunstprodukt, eine kulturell und zeitlich von ihrem Gegenstand weit entfernte Imagination. Andererseits hat Lutes viel recherchiert, von Zilles Milieustudien bis zu Polizeiberichten, hat Döblins „Berlin Alexanderplatz“ gelesen und Walter Ruttmans „Sinfonie der Großstadt“ gesehen.

Der Darstellung der Ereignisse ist das anzumerken, vor allem aber den virtuos gezeichneten schwarzweißen Bildern, die bei aller Bevorzugung der Abstraktionen der ligne clair akribisch gearbeitet sind. Die berühmte Verkehrsampel am Potsdamer Platz kommt genauso ins Bild wie Hinterhöfe und Straßenbahnen, die Vossische Zeitung und die Werbe- und Warenwelt der Zeit. Die kulturgegebenen Grenzen der Genauigkeit markiert dann, als unfreiwillig subtile perspektivische Verfremdung und in charmanter Weise, der Schriftzug „Salinger Stahlwaren“, der einmal im Hintergrund zu erkennen ist. Die durchweg gelungene deutsche Übersetzung allerdings, deren Gründlichkeit daran zu ermessen ist, hat diesen deutsch-amerikanischen Buchstabenirrtum, fast möchte man sagen: leider, korrigiert und der Stadt Solingen zu ihrem Recht verholfen.

Die Geschichte, die „Berlin. Steinerne Stadt“ erzählt, beginnt mit einer Begegnung im Zug. Kurt Severing, ein Journalist und Mitarbeiter der Weltbühne, und Marthe Müller, eine junge Kölnerin und angehende Kunststudentin, lernen sich auf der Fahrt nach Berlin kennen. Ihrer beider Milieus spielen eine wichtige Rolle, besonders das der Kunstakademie dürfte dem zum Comic konvertierten Kunsthochschüler Lutes viel Freude bereitet haben.

Sein Ehrgeiz aber geht weit über die Darstellung privater Geschichten hinaus. Weitere Haupt- und Nebenfiguren werden eingeführt, etwa eine Arbeiterin, deren Mann den Nazis nachläuft, eine nicht mehr junge Frau, die ihr Geld als Nachtclub-Tänzerin und Nacktmodell verdien, auch Joachim Ringelnatz hat einen fulminanten Auftritt.

Die Stadt wird bevölkert mit Figuren, die zu gleichen Teilen Individuen und Repräsentanten ihrer Zeit sind. Vielleicht, das wäre der einzige Einwand, treibt es Lutes manchmal zu weit mit der Verallgemeinerung. Einzelne Stränge der Erzählung geraten ihm zuweilen aus dem Blick, und das Figurenpanorama weitet sich ins Unübersichtliche. Andererseits ist wohl gerade das sein Ehrgeiz: „Berlin“ will mit Entschiedenheit ein richtiger Roman sein, ja eine Sinfonie der Großstadt in Comicform, ein Ineinander und Durcheinander der Träume, Hoffnungen und Ängste der Zeit. Faszinierend tatsächlich der Reichtum der Stimmen, die in geradezu hörspielartigen Arrangements als Ballons und Kästchen, als Dialoge, Tagebuchtexte und auch als unausgesprochene, beinahe unbewusste Gedanken durch die Panels zu treiben scheinen.

Lutes lässt seinen Figuren viel Raum zur Entfaltung, er ist verliebt in Details, zumal „Berlin“ nur der erste Teil einer Trilogie ist. Das aber könnte sich für den Leser als echte Geduldsprobe herausstellen. Denn wer Comics für Leute schreibt, die keine Comics lesen, kann davon, wie Lutes erfahren hat, nicht leben. Wenn es in seinem bisherigen Arbeitstempo weitergeht, ist mit dem Abschluss der Trilogie leider erst für 2017 zu rechnen.

Jason Lutes: „Berlin. Steinerne Stadt“. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders. Carlsen 2003, 214 S., 14 €