Eine für alle

In Filzpantoffeln durch Schleefheim und Sangerhausen: Judith Wilske inszeniert Einar Schleefs tausendseitigen Endlosmonolog „Gertrud“ auf der großen Kampnagel-Bühne in Hamburg

von SIMONE KAEMPF

Erst will man den Handgriffen keine Bedeutung beimessen. Es sind ja nur Schnürsenkel, die in die Ösen eingefädelt werden. Elf Schauspielerinnen beugen sich über elf Paar identische Turnschuhe und ziehen die Senkel durch Ösen. Banale wie beiläufige Gesten, die man nicht mit der Obsession von Einar Schleef und seiner imaginierten Mutter Gertrud zusammenbekommt. Auch nicht mit besonderem Schleef’-schem Formwillen. Dennoch führt Judith Wilske mit der Anfangsszene ihrer Inszenierung von „Gertrud, Hamburger Fassung“ theatral – zunächst – ganz nah an ihn heran: Alle machen das Gleiche, aber jeder macht es auf eigene Art. Mit dem Einfädeln der Schnürsenkel beginnt auf der Bühne der Versuch des Individuums Gertrud, sich in der Masse zu behaupten.

Einar Schleefs Roman „Gertrud“, das ist der tausendseitige Endlosmonolog, erschienen 1981 und 1984, eine verkappte Biografie der Mutter, Vergangenheitsbewältigung des Sohns, zwanghafte Erinnerung an ein Jahrhundert deutsche Geschichte aus Kaiserreich, Nazizeit, DDR, BRD und Wiedervereinigung, Mutter und Sohn voneinander ein- wie ausgesperrt. Dieses Ausbrechenwollen, das Abstecken von Innen und Außen, ist der Fokus, den man in Judith Wilskes Arbeit erkennen kann.

Zwölf Monologe hat sie aus dem Roman zusammengeschnippelt – die Uraufführung der lange unveröffentlicht gebliebenen Schleef’schen Bühnenfassung ist Thomas Bischoff an diesem Wochenende in Düsseldorf vorbehalten – aber ein Original hat Wilske doch zu bieten: den acht mal elf Meter großen Plan von Schleefs Geburtsort Sangerhausen, den er einst auf große, grau grundierte Spanplatten malte. Mit so schnellem Strich wie seltsamer Akribie sind die Straßen und Häuser als weiße Linien und dunkelgraue Kästchen skizziert, dazu passt, dass viele Orte von ihm aus persönlicher Erinnerung und eigenen Erlebnissen benannt sind.

In Filzpantoffeln darf man durch die Straßen von Sangerhausen rutschen. Eine schöner, weit geschlagener Bogen zu Gertruds Leben. Aber als Projektionsfläche bleibt die Arbeit in ihrer Hermetik ungenügend für die Zuschauer – wie für eine Touristengruppe, der sich allein durch die Betrachtung einer Fassade die Geschichte noch nicht erklärt. Die Ratlosigkeit wird von Regisseurin Wilske noch erhöht, die den Zuschauern den Stadtplan vorstellt und dabei in redundantem Stadtführerdeutsch selbst die Mindestinformation vorenthält, wann, wo und warum Schleef die Arbeit gemalt hat. Die Lücken, Überinformationen und Brüche der Textvorlage sind auch diesem Abend einverleibt.

Die Atmosphäre des Hauptteils der Inszenierung in der großen Kampnagel-Halle erinnert zunächst an ein Nachkriegslazarett. Zwölf Krankenhausbetten sind in vier Reihen aufgebaut, in denen elf Gertruds und ein Sohn als Alter Ego bereitliegen. Als Ehefrau, Mutter, Liebhaberin, Witwe, Tochter erzählen sie den Zuschauern, die zwischen den Betten wandern können, monomanisch aus ihrem Leben. „Tausende lebten so. Ja, so ist das“, gab Schleef einst als Erklärung dafür an, warum er als „Gertrud“-Bühnenversion einen „Monolog für Frauenchor“ geschrieben hat. Wilske lässt die Masse nicht nach außen, sondern nach innen brechen, indem sie die Gertruds auf der Bühne vervielfacht.

Ihre Stimmen ergeben in der hohen Halle ein summendes Murmeln, und daraus gewinnt die Inszenierung eine Zeit lang eine schöne produktive Irritation. Immer dann zieht es einen ans Bett der nächsten Gertrud, wenn eine Stimme plötzlich beharrlicher erscheint, wenn Kissen gerauft werden, sich die Tonlage ändert oder geschwiegen wird, als schlafe die Frau schon für immer. Minimale Akzentuierungen des Persönlichen geben den Figuren individuelle Gestalt.

Die Regisseurin möchte Interaktionen, doch die Spannung verliert sich, weil die Zuschauer sich schon nach kurzer Zeit an die provokante Krankenbettnähe gewöhnt haben. Die körperliche Aggression, mit der die Auseinandersetzung mit der Figur der Mutter in der Vorlage verbunden ist, bleibt ein Assoziationsraum, der viel zu groß ausfällt. So wird es am Ende eine Wohlfühl-„Gertrud“, in der man mit Komplizenschaft alles unterbringen könnte, selbst eine Gesprächsrunde der SPD zum Thema „Altern in Deutschland“. Die ist bereits angekündigt.