Den inneren Schweinehund überwinden

Ernährungsprävention ist zwar noch kein Renner, aber auf bestem Wege dorthin. Dabei ist die konkrete Essstörung oft nur das geringste Problem derer, die zu einer Ernährungsberatung kommen. Deshalb haben manche Institute ihr Beratungsangebot inzwischen um Coaching-Elemente ergänzt

VON PETRA SCHELLEN

Dass Essstörungen nicht allein die Nahrungsaufnahme betreffen, ahnte man schon länger. Dass aber, wer sein Essverhalten ändern möchte, eventuell auch eine ausführliche Psychotherapie oder ein Coaching braucht – das gilt, dachte man bislang, vor allem für Magersüchtige und andere schwer Kranke.

Das Problem der Essgestörten, dem die immer gefragteren Ernährungsberater hierzulande beizukommen suchen, reicht aber noch tiefer: „In den letzen Jahren haben Ernährungsberater oft deshalb nur mäßige Erfolge – sprich: keine dauerhafte Verhaltensänderung erzielt, weil sie das Essen isoliert betrachteten und keinen Coaching-Ansatz hatten“, sagt Sandra Rose-Fröhlich, Ernährungsberaterin am Gesundheits-Kompetenzzentrum ISB Hamburg. „Das praktizieren wir ins unserem 2004 gegründeten, von den Krankenkassen zertifizierten Institut anders: Wir haben von Anfang an auch einen Coaching-Ansatz im Programm und arbeiten mit den Patienten zunächst eventuell an ganz anderen Themen als am Essverhalten. Denn es geht ja darum, zunächst überhaupt mal an deren Grundsituation heranzukommen“, sagt Rose-Fröhlich.

Wer die Ernährungsberatung aufsucht, dessen Essverhalten ist tatsächlich oft das geringste Problem. „Bei vielen geht es zunächst um die Existenzsicherung, die haben unendlich viele andere Dinge im Kopf. Zum anderen ist für das Essverhalten natürlich die Gefühlswelt ganz entscheidend“, sagt Rose-Fröhlich. Das Essen sei da oft nur das Ende einer Kette von Problemen; markantes Beispiel seien die übergewichtigen Kinder, die oft aus psychisch hoch belasteten Familien kämen.

„Also müssen wir mit den Patienten, die – gegen einen geringen Eigenbeitrag, den Rest zahlt die Kasse – zu uns kommen, zunächst an diesen Grundlagen arbeiten.“ Wobei sie schwere Fälle etwa von Depression oder Alkoholismus an Psychotherapeuten weiterreicht; manches bekommt sie aber auch selbst in den Griff.

Und was das Essen betreffe, „weiß im Grunde jeder selbst, was gesund ist: mehr Gemüse, weniger Fett und Zucker; das wissen viele quasi intuitiv“, sagt Rose-Fröhlich. Ausgenommen vielleicht Menschen, die schon im Mutterleib aufgrund der Ernährungsgewohnheiten der Mutter viel Zucker aufnahmen und so ein lebenslanges besonders starkes Bedürfnis danach entwickelten.

„Grundsätzlich aber gilt: Wir essen zu viel Fett, zu viel Zucker zu viele Fertiggerichte – und außerdem oft zum falschen Zeitpunkt“, sagt Rose-Fröhlich. „Das fängt schon am Morgen an: Viele Menschen frühstücken nicht und beginnen erst um elf, zwölf Uhr auf der Arbeit zu essen.“ Viel zu spät sei das, „denn die Menschen bewegen sich lange vorher, das heißt der Stoffwechsel muss funktionieren. Der Mensch verbraucht während dieser Stunden Zucker, ohne welchen von außen zuzuführen. Also muss der Körper ihn selbst herstellen – aus Muskelgewebe; auch die Leber gibt Zucker ab.“

Bei langen Nüchternheits-Phasen produziere der Körper allerdings deutlich mehr Zucker, als gebraucht werde – und wandle diese Überschüsse in Fett um. „So kommt es, dass Fettleibige oft sagen, sie essen ja nichts. Tun sie auch nicht, jedenfalls nicht zur geeigneten Zeit.“ Ein Phänomen, an dem die Ernährungsberaterin mit den Patienten arbeitet – was oft nicht leicht ist. „Der Klassiker lautet ja: Kann ich nicht, geht nicht. Denen sage ich dann: ,Geht nicht – können wir nicht. Und was haben Sie denn für Vorschläge?‘ An dieser Stelle fangen die meisten an nachzudenken und konstruktiv zu sein.“

Keine Ideen vorzugeben, sondern den Patienten selbst reflektieren zu lassen: eine klassische Coaching-Methode, weit fruchtbarer als schlichte Ratschläge. Denn der Patient muss eigene Lösungen entwickeln und kann sich später nicht darauf zurückziehen, bevormundet oder gegängelt worden zu sein.

Das Problem, mit dem die meisten zur Ernährungsberatung kommen, wirkt wie ein Klassiker: „Übergewicht“ lautet es – „bei Menschen jeden Alters und Geschlechts“, sagt Rose-Fröhlich. Insbesondere die Forschungen und Lösungsansätze für kindliches Übergewicht steckten allerdings noch in den Anfängen. „Einig ist man sich nur darin, dass etwas zu tun ist. Was, weiß aber keiner so genau. Denn letztlich liegt das Problem ja nicht nur bei den Kindern“, sagt Rose-Fröhlich. Sondern zum Beispiel auch bei Schulen und Kitas.

Hier wiederum lässt sich leichter ansetzen als in den Familien: „Im Rahmen des Gesetzes zur betrieblichen Gesundheitsvorsorge kann man uns auffordern, die Kantinenpläne durchzusehen. Oft genügt da eine kleine Justierung: anstelle eines Riesenschnitzels mit einem Berg Kartoffeln die Portion kleiner zu machen und um Gemüse zu ergänzen“, sagt Rose-Fröhlich. In manchen Hamburger Schulen hält sie – immer auf Anfrage natürlich – auch Vorträge oder einzelne Unterrichtsstunden zu Ernährungsfragen. Denn zentral sei, einerseits ein Bewusstsein für gesunde Nahrung zu wecken und andererseits die Menschen dahin zu bringen, auch privat die richtige Nahrung anzuschaffen. „Die Erfahrung zeigt: Der Mensch isst oft das, was da ist. Gibt es bei einem Vortrag Kekse, essen alle Kekse. Gibt es Gemüsesticks mit Quark, essen alle das“, weiß Rose-Fröhlich.

Klingt sehr schlicht, trifft aber Mentaltität und grundlegende Trägheit der Spezies Mensch. Dass ein wichtiges Hindernis – und Hauptmotor zum Brechen auch als richtig erkannter Ernährungsregeln – Belastung oder der berühmte innere Schweinehund sind, weiß Rose-Fröhlich natürlich auch. „Und dem muss man ja auch mal nachgeben– besonders in Belastungssituationen. Aber eben nur dann. Denn Tatsache ist, dass Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gicht – neben erblichen Faktoren – auf Fehlernährung zurückzuführen sind. Hier wäre also eine Stellschraube, an der jeder Einzelne für sich drehen könnte.

www.isbhamburg.de