Die so genannte Wirklichkeit

Die Welt besteht nur aus auseinander fallenden Scherben. Sie ist ein dunkles, zusammenhangloses Chaos, das allein vom Schreiben zusammengehalten wird: Imre Kertész’ neuer Roman „Liquidation“

Der Überlebende ist nicht tragisch, weil er überhaupt kein Schicksal mehr hat

von ANNE KRAUME

Imre Kertész’ neues Buch „Liquidation“ ist eine Geschichte über einen Roman, der eigentlich mindestens zwei Romane ist. Und außerdem ein Theaterstück. Dem Verlagslektor Keserű ist die Wirklichkeit abhanden gekommen: „Neuerdings war die Wirklichkeit für Keserű zu einem problematischen Begriff, doch was noch schlimmer ist: zu einem problematischen Zustand geworden.“ Er versucht sich zu behelfen, indem er müde triumphierend von der „sogenannten Wirklichkeit“ spricht, wann immer er den Gebrauch des Wortes nicht vermeiden kann. Aber auch das ändert nichts an der Tatsache, dass Keserű in diesem Frühjahr 1999 aus seinem Leben gleichsam herausgefallen ist: „Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst aber gab es noch, und das war ein Problem …“

Zehn Jahre nach der Wende sind die Konturen von Keserűs bescheidenem Budapester Intellektuellenleben verwischt. Der äußere Widerstand durch das „System“ ist weggefallen, einen Ersatz für dessen fragwürdige Grenzen kann es nicht geben, und so scheint nicht nur die Fortsetzung von Keserűs Geschichte unmöglich, sondern auch die Fortsetzung der Geschichten seiner Freunde und Bekannten: „Ja, bei genauerer Betrachtung sah er überhaupt nur noch Lösungen anstelle von Leben.“ In diesem Zustand wird für Keserű ein Theaterstück mit dem Titel „Liquidation“, das sein Freund B. kurz vor seinem Selbstmord neun Jahre zuvor vollendet hat, zum Gegenstand obsessiven Gedenkens und Erinnerns.

In seinem Stück greift B. den Entwicklungen gewissermaßen vor: Er beschreibt darin die Situation, in die seine Freunde nach seinem Tod und durch seinen Tod geraten. Gespenstisch genau hat er Szenen vorgezeichnet, die sich später exakt so abspielen, wie er sie entworfen hat. Die Verwirrung und Orientierungslosigkeit der Hinterbliebenen ist in dem Stück mit Händen greifbar – und wenn der Lektor Keserű das Stück nach all den Jahren wieder und wieder liest, dann vor allem auch, um sich auf der Suche nach seiner eigenen Geschichte an diesem Geländer entlangtasten zu können. Immer verzweifelter fahndet er unterdessen nach dem großen Roman, den er im Nachlass B.s zu finden gehofft hatte. Auf dessen Existenz verweist nicht zuletzt eine handschriftliche Notiz des toten Freundes, in der dieser schreibt, die Existenzbasis des Theaterstücks sei ein Roman.

Vieles deutet darauf hin, dass wir, die Leser des Romans „Liquidation“ von Imre Kertész und des gleichnamigen Theaterstücks innerhalb dieses Romans, auch den verschwundenen Roman kennen, nach dem in „Liquidation“ gefahndet wird. Der Schriftsteller und Übersetzer B. in „Liquidation“, der in Auschwitz geboren ist, hat vieles gemein mit dem Schriftsteller und Übersetzer B., der in Kertész’ „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ in einem labyrinthisch-wahnwitzigen Monolog seine Weigerung rechtfertigt, nach Auschwitz noch Leben weiterzugeben.

Wie dieser frühere B. wird auch der neue B. zum Sprachrohr für die Schicksallosigkeit: Der Überlebende ist nicht tragisch, weil er kein Schicksal mehr hat. Wenn in Kertész’ neuem Roman Judit, B.s geschiedene Frau, sagt, sie wolle die Welt nicht als eine Welt von Mördern sehen, sondern als Ort, an dem man leben kann, dann erzählt sie die Geschichte der Frau aus dem Kaddisch-Roman fort, die sich genau deshalb von ihrem Mann trennt.

Für den Leser Keserű wird die Suche nach B.s verlorenem Roman zum Lebensinhalt – und auch das hat dieser schon in seinem Theaterstück dargestellt. Wenn Sára, B.s Geliebte, das Manuskript nicht hat, ist es dann bei seiner Exfrau Judit? Keserűs Erinnerung an den toten Freund und an das Leben vor dessen Tod wird immer wieder an das Theaterstück zurückgebunden: Szenen, an die er sich erinnert, tauchen später, dramaturgisch zugespitzt, in B.s Stück wieder auf; Szenen, die man in dem Stück liest, denkt Keserű in seiner Erinnerung weiter. Der Roman und das gleichnamige Stück werden so ineinander geschachtelt, dass man den einen nicht mehr lesen kann, ohne das andere mitzudenken, und umgekehrt.

Die zahllosen Perspektivwechsel – mal wird über Keserű erzählt, mal erzählt er selbst, mal sieht man ihn im Stück agieren, mal ist er ganz ausgeblendet, weil er in der Szene des Stückes, die er gerade liest, nicht selbst vorkommt – verschieben die Wahrnehmung: weg von der ursprünglichen Szene, in der Keserű in seiner Wohnung das Theaterstück liest, hin zu einem vielschichtigen Nebeneinander von unterschiedlichen Szenen und Beobachtungen der „sogenannten Wirklichkeit“.

„Die Welt besteht aus Scherben, die auseinander fallen, sie ist ein dunkles, zusammenhangloses Chaos, allein vom Schreiben zusammengehalten“, sagt Keserű einmal. In Imre Kertész’ neuem Roman gibt es niemanden mehr, der Auschwitz bewusst erlebt hätte. Der Schriftsteller B. weiß dennoch, dass seine Geschichte, die in Auschwitz begonnen hat, niemals erzählbar sein wird. Auch der Schriftsteller Imre Kertész weiß um die Unerzählbarkeit. Trotzdem fährt er fort, seine und unsere dunkle, zusammenhanglose Welt schreibend zusammenzuhalten.

Imre Kertész: „Liquidation“. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003, 150 S. 17,90 €