„Al-Qaida ist wie McDonald’s“

INTERVIEW KARIM El-GAWHARY

taz: „Die Welt hat sich unwiderruflich verändert“, lautete der Standardanalyse der politischen Kommentatoren nach dem 11. September. Das war meist auf den Westen bezogen. Gilt dieser Satz auch für die militanten Islamisten?

Dia Raschwan: Wir haben es mit zwei Parteien zu tun, wenn wir über die Auswirkungen des 11. September sprechen. Wenn die Welt sich für die erste Partei, vor allem die USA, verändert hat, dann sicherlich auch für die zweite Partei, die militanten Islamisten. Die USA haben ihnen den Krieg erklärt, und sie fanden sich ungewollt auf zwei neuen Schlachtfeldern wieder, Afghanistan und Irak. Auch die Strategie der Islamisten hat sich verändert. Sie existieren in allen Schattierungen von moderat bis militant. Da die USA den Gegner nicht genau definiert haben, fanden sich alle im zweiten Lager, dem Lager von al-Qaida wieder.

Wo befindet sich eigentlich nun genau die Hauptfront? Wir erleben fast täglich Anschläge im Irak, aber auch in dessen Nachbarländern wie Saudi-Arabien. Europa ist so wenig ausgeschlossen wie Südostasien, und alles wartet auf den nächsten großen Anschlag in den USA.

Die große Katastrophe ist, dass keine der beiden Seiten seinen Gegner genau definiert hat. In den USA mit all ihren Institutionen und Experten wurde nie definiert, wer genau ein Terrorist ist. Als US-Präsident Bush sein Credo „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ verkündete, hat er das „gegen uns“, einfach nicht beschrieben. Auch die andere Seite definiert den Gegner nicht. Der Gegner ist generell „der Westen“, aber jeder definiert je nach geografischer Lage und historischer Erfahrung seinen „eigenen Westen“. Für indonesische Islamisten ist das Australien, wie die Anschläge in Bali aber jetzt auch auf die australische Botschaft in Jakarta beweisen. Für die Marokkaner sind es die Spanier. Keiner würde aber eine Gelegenheit auslassen, im Zentrum des Westens, den USA, zuzuschlagen.

Werden wir es – ähnlich wie mit den Dschihad-Rückkehrern aus Afghanistan, die nach dem Ende der sowjetischen Besatzung ihre Heimatländer unsicher machten – in Zukunft in der Region mit der Rückkehr von Mudschaheddin aus dem Irak zu tun haben?

Wir erinnern uns, dass die Mudschaheddin mit der aktiven Hilfe des saudischen, pakistanischen und amerikanischen Geheimdienstes CIA nach Afghanistan gebracht worden waren. Trotz dieser Unterstützung auch aus den muslimischen Nachbarstaaten, sind viele der Mudschaheddin nach getaner Arbeit in Afghanistan in ihre arabischen Heimatländer zurückgekehrt, um dort ihre eigenen Regime zu bekämpfen. Diesmal ist es noch komplizierter. Rund um den Irakkrieg herrschte bei den arabischen Regimen eine Art Schweigen der Komplizenschaft. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Krieg nicht möglich gewesen wäre, hätten nicht einige arabische Staaten der US-Armee ihr Territorium als Aufmarschgebiet zur Verfügung gestellt. In der arabischen öffentlichen Meinung, nicht nur der Islamisten, werden die eigenen Regime für die Besatzung des Irak mitverantwortlich gemacht. Daraus lässt sich ableiten, dass wir in Zukunft mehr militante Islamisten erleben werden, die ihre eigenen Regime bekämpfen. In der militanten islamistischen Bewegung gab es stets eine Diskussion, ob man den nahen Gegner, sprich „ungläubige eigene Regime“, oder den weit entfernten Gegner, die USA, angreifen soll. Dieser Widerspruch hat sich nun aufgelöst.

Nach dem 11. September herrschte in weiten Teilen der arabischen Welt fast eine Art Schadenfreude, nach dem Motto, die USA haben das mit ihrer Politik in der Region verdient. Führen die Anschläge in den eigenen Ländern nun wieder dazu, dass sich die Menschen von den militanten Islamisten distanzieren?

Die USA haben den Islamisten mit ihrer Reaktion auf den 11. September einen großen Gefallen getan. Ende der 90er-Jahre war das Image der Militanten nach ihren blutigen Angriffen in Ägypten und Algerien in der arabischen Welt gesunken. Nach dem 11. September und dem Afghanistan- und Irakkrieg ist ihr Stern wieder als eine Art „Befreiungskämpfer“ gegen eine ausländische Besatzung gestiegen. Ihr Image war noch nie besser. Jetzt hören wir den Namen al-Qaida in Madrid, Paris und Frankfurt, und im Internet finden wir tausende von Seiten, die den Dschihad gegen die USA beschwören. Sie können sich nicht nur als Durchsetzer islamischer Prinzipien, sondern auch als nationale Befreiungsbewegung gegen eine Besatzung verkaufen.

Haben die militanten Islamisten ihr Verständnis verbessert, wie im Westen Politik funktioniert? Die Anschläge in Madrid am 11. März kurz vor den spanischen Wahlen oder die möglicherweise gezielte, noch andauernde Entführung französischer Journalisten kurz vor der Einführung des Kopftuchverbotes an französischen Schulen würde dafür sprechen.

Das waren schon immer echte Realpolitiker. Die kommen nicht, wie oft beschrieben aus dem Mittelalter. Auch ihre Verwendung des Internets zeigt, dass sie in vielerlei Hinsicht moderner agieren als so manch andere politische Kraft in der arabischen Welt. Der Zeitpunkt der Anschläge in Madrid zeigt, dass sie clever sind.

Westliche Medien sprechen immer vom Al-Qaida-Netzwerk, andere Experten behaupten, dass al-Qaida inzwischen mehr eine Ideologie als eine Organisation darstellt. Wie würden Sie al-Qaida beschreiben?

Al-Qaida war nie eine einzige Organisation. Es waren mehrere Gruppen auf einen geografischen Raum begrenzt. Dann kam der 11. 9., und aufgrund der folgenden Sicherheitsmaßnahmen, wurde der gegenseitige Kontakt unterbrochen. Es gab kein Hauptquartier mehr. Al-Qaida entwickelte sich mehr zu einer sich ausbreitenden Idee oder einem Modell. Ich vergleiche das gerne mit McDonald’s: viele Zweigstellen und Lizenznehmer, aber nur eine einzige Speisekarte. Um eine Lizenz zu erhalten, muss man einfach irgendwo zuschlagen und sich nach dem Anschlag einen Fantasienamen geben, der irgendwie mit al-Qaida in Verbindung steht: schon hat man eine Zweigstelle eröffnet. Das erscheint dann im Westen so, als bekämpfe man eine riesige Armee.