Die Nacht der kurzen Zündschnüre

Die Berliner Akademie der Künste zeigte „Disbelief“, einen Film des russischen Dokumentarfilmers Andrei Nekrasow

„Diese Nacht war eine Zäsur“, sagt Andrei Nekrasow über die Nacht vom 8. zum 9. September 1999, in der ein Moskauer Wohnhaus in die Luft flog. So erklärt der Regisseur von „Disbelief“ am Mittwochabend der großen Schar von Interessierten in der Berliner Akademie der Künste, warum er den Dokumentarfilm „Disbelief“ drehen wollte. „Nach dieser Tat bekam das Wort ‚Terrorist‘ im Russischen eine andere Bedeutung. Vorher bezeichnete es in unserer Geschichtsschreibung eher einen Helden, der versuchte den Zaren zu erledigen.“ Ab jetzt diente Terrorismus als Kriegsgrund. Für den bis heute andauernden zweiten Tschetschenienkrieg, der mehr als 200.000 Opfer forderte, wurde die Bevölkerung mobilisiert.

Die zentrale These von „Disbelief“ riecht nach Verschwörungstheorie – und hat doch gewichtige Indizien auf ihrer Seite: Gut möglich, dass der russische Geheimdienst die Attacke organisierte.

In der Gesprächsrunde nach dem Film hält dies auch Sergej A. Kowalkow, Mitglied der Untersuchungskommission der Duma, der von „Monitor“-Moderatorin Sonia Mikich als persönliches Vorbild und „gutes Gewissen“ Russlands angekündigt wird, für möglich. Auch er meint, dass „die zentralen Sicherheitskräfte des FSB eine großen Anteil an den Anschlägen hatten“. Seine Kommission konnte dafür zwar keine Beweise liefern (er betont das Wort „konnte“), beweisen konnte sie aber, dass die Regierung in einigen Punkten lügt. Der Tschetschenien-Beauftragte des Europarates, Rudolf Bindig (SPD), beschreibt die Probleme bei Nachfragen: „Die russischen Behörden wirken wie Watte. Sie behaupten, sie würden ermitteln, und tun in Wirklichkeit nichts.“ Lipkan Basajewa, tschetschenische Menschenrechtlerin, beklagt den Generalverdacht, unter den Tschetschenen nach dem Anschlag in ganz Russland gerieten.

Bis hier herrscht auf dem Podium Einigkeit. Kontrovers wird es, als Putins Äußerung vom Mittwoch, die russischen Kräfte würden den Terrorismus nun auch außerhalb Russlands bekämpfen, zur Debatte steht. Während Kowaljow dies mit der russischen Weisheit „Kühen, die kämpfen wollen, gibt Gott keine Hörner“ als leere Drohung abtut, sind sich Sonia Mikich und Nekrasow einig, dass diese Töne Repressionen und Schlachtfelder ankündigten. Zusammen mit von oben organisierten Massenkundgebungen seien sie weitere Signale für „die Restaurierung sowjetischer Verhältnisse“.

GUIDO KIRSTEN