Psychische Probleme und viel Ideologie: Kampfzone Patchworkfamilie

Kinder aus solchen Familien stehen schlechter da. Das liegt auch an Benachteiligungen im Familien- und Steuerrecht. Und an schlechten Beziehungen.

Für Patchwork-Kinder ist das Leben oft etwas schwieriger. Bild: Ernst Vikne | CC-BY-SA

MÜNCHEN taz | Immer wenn Nora bei ihrem Papa zu Besuch ist, herrscht Ausnahmezustand. Der hat nämlich eine neue Frau, Tamara. Sie kommt mit der neunjährigen Nora nicht klar: "Das Kind ist verzogen und neurotisch", glaubt sie. Nora hat mal wieder Kaugummis unter die Tische geklebt und ist selten bereit, im Haushalt mitzuhelfen. "Du hast mir gar nichts zu sagen", keift sie Tamara dann an. In der Schule ist Nora sehr schlecht geworden, auch die Lehrerin empfiehlt den Gang zum Kinderpsychologen, wenn sich die Wogen in der Patchworkfamilie nicht bald glätten.

Patchworkfamilien, auch Stieffamilien genannt, gibt es immer häufiger. Und zwar, weil die Scheidungsrate seit den 60er Jahren ansteigt. 50 Prozent aller deutschen Ehen werden heute innerhalb von sieben Jahren geschieden. Mehr als die Hälfte der geschiedenen Eltern hat schon nach einem Jahr wieder einen neuen Partner. Etwa drei von zehn Kindern erleben darum bis zu ihrem 18. Lebensjahr eine Patchwork-Konstellation.

In den 80er Jahren schätzte man, dass heute 50 Prozent der Kinder in einer Patchworkfamilie groß werden. Es herrschte damals auch eine gewisse Euphorie hinsichtlich dieser neuen Lebensform, zumindest in gewissen Kreisen. Patchwork, Flickenteppich – das klingt irgendwie bunt und lustig, nach Befreiung von der spießigen Normalfamilie. Heute assoziieren die meisten Menschen Patchworkfamilien jedoch mit Chaos, viel Streitereien und unglücklichen Kindern.

Bunt und lustig – oder pures Chaos?

Und auch die Wissenschaft bescheinigt Kindern aus Patchworkfamilien zahlreiche Nachteile: Patchworkkinder werden öfter Opfer von Misshandlung oder Vernachlässigung, sind häufiger psychisch auffällig, häufiger übergewichtig, Jugendliche haben öfter Schulprobleme und werden häufiger straffällig.

Marcelo Aebi, Kriminologe an der Universität Lausanne, hat etwa im Jahr 2003 aufgedeckt, dass rund 40 Prozent der Jugendlichen aus traditionellen Familien schon mindestens einmal gegen das Gesetz verstoßen haben, bei Kindern aus Ein-Eltern-Familien waren es 48 Prozent, bei Patchwork-Kindern 58 Prozent. Aebi hat auch eine Erklärung dafür: "Die stärksten Bindungen an die Eltern bestehen in klassischen Familien, die schwächsten in Stieffamilien." Und wenn Kinder nicht gut mit ihren Eltern auskämen, begünstige das das Abgleiten in die Kriminalität.

Laut den Studien von Martin Daly und Margo Wilson, Evolutionspsychologen an der kanadischen Uni Hamilton, sterben Stiefkinder früher. Zudem haben die Forscher herausgefunden, dass 32 Prozent der Kinder, die bei mindestens einem Stiefelternteil leben, Opfer einer Misshandlung werden, dagegen nur 3 Prozent jener Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern leben.

Stiefkinder zeigen doppelt so viele Verhaltsauffälligkeiten

Für diese Phänomene haben Daly und Wilson evolutionsbiologische Erklärungen parat: Stiefeltern wollen lieber in die Weitergabe ihrer eigenen Gene investieren. Vor allem Stiefväter würden die Kinder der Frau regelrecht "wegbeißen" wollen. Auch die Psyche leidet offensichtlich in Stieffamilien: So weisen Stiefkinder doppelt so häufig, etwa 20 Prozent, Verhaltensauffälligkeiten auf wie Kinder aus traditionellen Familien.

Der Neurologe und Psychiater Bertrand Flöttmann glaubt, dass eine verwöhnende Erziehung, Vernachlässigung und schmerzhafte Trennung beim Kind zu psychischen Störungen führen: "Darum zeigen Patchworkkinder eine erhöhte Aggressivität, neurotische Fehlhaltungen und verringerte soziale Kompetenz." Viele Wissenschaftler sind darum der Meinung, dass Eltern "der Kinder wegen" möglichst lange zusammenbleiben sollten.

Doch ist das Leben in Stieffamilien wirklich so düster, wie es diese Befunde glauben machen? Klaus Hurrelmann, Soziologe an der Universität Bielefeld, meint dazu: "Man kann nicht leugnen, dass Kinder statistisch besehen etwas schlechter dastehen, wenn sie in Stieffamilien aufwachsen."

Es gibt auch Familien, in denen es gut läuft

Allerdings gibt es auch viele Patchworkfamilien, wo es gut läuft. "Der große Teil der Patchworkfamilien sind normale Familien, von denen manche Mitglieder nicht wissen, dass sie in einer Patchworkfamilie leben. Ein kleiner Teil genießt das Patchworkdasein: mehr Großeltern, mehr Geschenke, man kann zum anderen Elternteil ausweichen, es gibt mehr Feste, eben alles was eine Großfamilie lebenswert macht. Und ein nicht zu unterschätzender Anteil der Patchworkfamilien ist problematisch bis höchstproblematisch", meint Walter Bien, Soziologe am Deutschen Jugendinstitut. Also alles so wie im richtigen Leben.

Die Unterschiede sind auch eher gering. Laut der Shell-Jugendstudie 2006 leidet in Scheidungsfamilien das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern – jedoch nur vorübergehend. Betroffene Jugendliche gaben an, dass sie zwar gelegentlich Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern hätten, aber insgesamt gut mit ihnen auskämen. Auch DJI-Studien zeigen, dass es nur geringfügig mehr Reibereien in Stieffamilien gibt.

Die psychische Stabilität von Kindern hängt jedoch nicht vorrangig von der Familienform ab, sondern von vielen anderen Faktoren. So haben US-Studien ergeben, dass eine schlechte psychische Gesundheit bei Patchworkkindern vielmehr mit der Schwere von familiären Konflikten einhergeht. Kinder in Patchworkfamilien müssen erst mal eine Trennung verarbeiten, die von vielen auch traumatisch erlebt wird. Der Trennung gingen oft auch schon schwierige Jahre voraus. Dazu kommen zahlreiche Veränderungen in ihrem Lebensalltag, etwa neuer Wohnort, neue Schule, Stief- und Halbgeschwister und finanzielle Engpässe der Eltern. "Das soziale Umfeld benachteiligt Familien, die nicht zur traditionellen Form gehören: Kindergeld, Ehegattensplitting, Arbeitsbedingungen, alles ist an der Normfamilie ausgerichtet und darunter leiden die anderen Familien sehr", gibt Hurrelmann zu bedenken.

Ideologisch belastet

Andererseits bietet auch die traditionelle Familie keinen Garantieschein für wohl geratenen Nachwuchs: "Es gibt keine gesicherten Beweise, dass die traditionelle Familie die bestmögliche Gewähr für eine glückliche und liebevolle Erziehung bietet", so Norbert Schneider, Familiensoziologe an der Universität Mainz.

Einige Studien weisen sogar im Gegenteil darauf hin, dass Kinder aus alternativen Familienformen eher in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen, sensibler auf Diskriminierung reagieren und über flexiblere Rollenauffassungen von Frau und Mann verfügen.

Es ist also immer eine Frage des "Wie". Dass dieses "Wie" alles andere als einfach ist, weiß der dänische Familientherapeut Jesper Juul: "Optimal für die Kinder ist es, wenn die leiblichen Eltern anständig miteinander umgehen und der neue Partner nicht die Erzieherrolle übernimmt, sondern dem Kind ein guter Erwachsenenfreund wird". Und die DJI-Forscher haben aufgedeckt, dass es auch sehr darauf ankommt, wie gut der Kontakt zum getrennt lebenden Elternteil ist.

Das Thema ist und bleibt mit viel Ideologie behaftet. Bis heute wird die Kernfamilie auch von vielen Wissenschaftlern als einziger Ort von Ordnung und Stabilität sakralisiert, und das, obwohl die Studien dazu mittlerweile sehr differenziert sind.

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