Spielen mit Ausweg

Lebensstandort Deutschland (5): Der Kollwitzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg ist der Jungbrunnen der Republik

Doch, doch, einen Aufruf zu den Montagsdemonstrationen gibt es auch am Kollwitzplatz. Etwas verschämt hängt der Zettel an der bronzenen Käthe-Kollwitz-Statue, seitlich, nicht mal auf Augenhöhe, aber immerhin schön fest angeklebt. Diese Verschämtheit macht Sinn, denn am Kollwitzplatz, der im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg liegt, gibt es vermutlich nicht viele potenzielle Montagsdemonstranten und Hartz-IV-Gegner. Hier lässt man es sich gut gehen, hier herrscht Wohlfühlatmosphäre, in jedem Fall ist die Stimmung besser als sonst im Land, und Reformbetroffene unter den Anwohnern können sich zumindest einbilden, dass es schon nicht so schlimm werden wird.

Bestimmt wird die Atmosphäre zum einen von den Touristen, die in den umliegenden Restaurants von morgens bis abends sitzen, wobei nicht klar ist, was sie sonst so anlockt. Zum anderen – den Schwarzmalern aus der Ex-DDR und den alten Kollwitzplatz-Romantikern zum Trotz – von den nicht weggentrifizierten Alteingesessenen genauso wie den neuen Anwohnern, die sich der alltäglichen Freizeitgestaltung halber in der Parkanlage rund um die Kollwitz-Statue tummeln und dort vor allem auf den beiden Kinderspielplätzen.

Man könnte auch sagen: Der Kollwitzplatz ist der Jungbrunnen der Republik, Probleme einer aufkommenden Gerontogesellschaft kennt man hier nicht. Das ist kein Wunder, denn der gesamte Bezirk Prenzlauer Berg gilt als der kinderreichste in ganz Deutschland. Als junger Vater hat man so auf dem Kollwitzplatz-Spielplatz nicht nur das Gefühl, unter seinesgleichen zu sein, ungeachtet der Gerüchte, gerade auf diesem Spielplatz seien die größten Elternspackos zu Hause (was coole Spackos eben so über Spackos sagen). Wichtiger ist, dass es anders als auf anderen Spielplätzen aus dieser Zwangsgemeinschaft immer einen Ausweg gibt, und sei dieser noch so virtuell: In Blickweite, von keinem Baum und keiner Häuserflucht verstellt, gibt es das andere Leben, das bei Spar, dem Supermarkt am Platz, und im Kolle 66, dem Zeitungsladen, das auf dem donnerstags und samstags stattfindenden Markt, der mehr als nur ein Markt ist, sondern hauptsächlich dem Sozialen dient, und eben das Leben in Restaurants wie 1900, Belluno oder Istoria, die nacheinander unentwegt von Straßenmusikern bespielt werden.

Am schönsten ist es auf den Spielplätzen (und auch sonst), wenn sich der Tag seinem Ende zuneigt und ein großer abendlicher Aufbruch in der Luft liegt. Allgemeine Aufgeräumtheit regiert, gelassene Erwartung, Ferienstimmung. Die wird höchstens getoppt von den frühen Morgenstunden, wenn alles noch neu ist und unberührt scheint, wenn sich in den Läden das Personal fit macht für den Publikumsansturm. Dass dieser Wirtschaftsstandort nicht so leicht den Bach runtergeht, merkt man an der geringen Fluktuation: Seit Jahren sind es dieselben Namen, die Santiagos und Bellunos, die 1900s und Santos, die die Stellung halten und gute Geschäfte machen, trotz des nicht berauschenden Angebots.

Eine Ausnahme ist der Guglhof, der über die Grenzen des Platzes seinen Bekanntheitsgrad hat, nicht zuletzt, weil sich einst Bill Clinton die Ehre gab. Den Guglhof-Betreibern war es nicht einmal zu peinlich, eine Pressemappe über Clintons Besuch anzulegen, um sie bei Bedarf vorzeigen zu können. Auch so eigenartige Selbstverwirklichungslädchen wie das „Strandbad“, wo es alles gibt, was es zum Baden so braucht, das Antiquitätengeschäft „Kun(s)t-A-Bunt“ oder, sozusagen die Crönung, „Coledampf’s Centrum“, wo man Ceramic, Cochlöffel und Ähnliches einkaufen kann, trotzen seit Jahren allen Rezessionsstürmen.

Wenn dann doch aus einem Italiener plötzlich das „Crossover Restaurant“ Bangin wird, wo man etwa pakistanische mit deutscher Kost kreuzt, kann das nur an finanzieller Misswirtschaft liegen, nicht an ausbleibenden Kunden. Im Bangin gibt es übrigens tagsüber, so steht es mit Kreide an einer Tafel vor der Tür, ein „Bussines“-Lunch – ein Verschreiber, der gut passt zum schönen, seltsamen Kollwitzplatz-Charme. GERRIT BARTELS