Die Unersättliche

Und diese Stimme sagt: Ich vernehme mich selbst, ich höre tief in mich rein, bin bei mir, hier und jetzt. Mit ihrem aktuellen Album „Medúlla“ ist Björk auf ihrer langen Reise nach innen ans Ziel gelangt

Hier geht es ums Ganze, um nichts weniger als um die EssenzEin echtes Genie kann nicht zugeben, dass es sich auch mal schinden muss

VON SUSANNE MESSMER

Es geht mit ein paar Frauenstimmen los, die so brutal metallisch klingen, wie man sich den Gesang der Meerjungfrauen vorstellt. Weiter unten brummt und summt etwas: ein Männerchor, archaischer und gotischer als die russischen Geistlichen mit den langen Bärten. Dann wird alles durch ein dunkles Schnalzen und Schnarren, Hecheln und Zischen gekickt. Auch dieser Rhythmus offenbart sich nach einer Weile als menschlich. Er stammt von den Lippen eines Rappers, der die Beatbox macht. Plötzlich tritt etwas hervor aus dieser klaustrophobischen Tiefe, die elektronisch verstärkt ist, die sich kompliziert zusammensetzt, aber klingt wie derselbe Guss: „Who is it?“ – singt es und reißt damit das Lied auf. Björks Stimme hat ihren Einsatz, weiter und größer als der Himmel, sehnsüchtiger, triumphaler denn je.

Wir sind ins erste Lied ihres neuen Albums „Medúlla“ gestürzt, Björks siebter Platte, ihrer radikalsten, kompliziertesten und einfachsten bisher. Nicht nur, dass man komplett auf irgendwelche menschlichen Stimmen aus den unterschiedlichsten Kontexten zurückgeworfen ist – jeder Klang, jeder Beat auf „Medúlla“ ist ohne Instrumente, a cappella, nur mithilfe von Chören, Sängern, Stimmkünstlern und ausgefeilter Aufnahmetechnik produziert –, man wird vor allem Björks Stimme ausgesetzt, die so noch stärker alles überstrahlt als gewohnt. Und diese Stimme sagt: Es ist hohe Kunst, gleichzeitig emotional und auf den Punkt zu singen. Ich vernehme mich selbst, höre tief in mich rein, bin bei mir, hier und jetzt. Und es war harte Arbeit, diesen Eindruck herzustellen.

Mit „Medúlla“ ist Björk Gudmundsdottir aus Reykjavík auf ihrer Reise nach innen ans Ziel gelangt. Schon immer war Rückzug ihre Lieblingsbewegung: Ob vor fast zehn Jahren in der Rolle als wunderbare Märchenfee in einem Lied – „My name Isobel, married to myself“ – oder vor fast fünf Jahren in Lars von Triers ungeheurem Film „Dancer in the Dark“, als Filmfigur Selma, die sich damit abfindet zu erblinden, weil sie die schönsten Bilder in sich trägt. Jetzt ist sie bei den Knochen und dem Fleisch angelangt, beim „5.000 Jahre alten Blut, das tief in uns fließt“, bei der „Medúlla“, einer Substanz, die, wie sie zu erklären nicht müde wird, im Rückenmark, in der Niere, aber auch in einigen Pflanzen vorkommt. Es geht ums Ganze, um nicht weniger als die Essenz. Nichts wäre besser geeignet als die Stimme Björks, diese atemlose, bebende Stimme, dies zu transportieren – eine Stimme, die nicht nur Ausdruck der Seele, des Sinns und des Symbolischen ist, sondern Ausdruck des Körpers, des Sinnlichen, des Realen.

Zurück zur Natur also? Zum Gesang als Urgrund aller Kultur? Zur Mystik à la Hildegard von Bingen? Das wäre ja kaum auszuhalten. Die Spannung, die das neue Album der Björk viel fesselnder macht, ist eher: Es gibt keinen Ursprung, also muss man ihn sich selbst zusammensetzen. Hätte Björk sich nicht wie gewohnt überall in der Welt mythologische, musikalische und technische Hilfe geholt, hätte sie nicht zuvor geschichtet und getürmt, die Songs und Rollen, die sie spielt, mit Material gesättigt und technisch intensiviert: Dieses Album hätte unerträglich esoterisch werden können.

Das Universum der Björk ist unendlich: Zum Beispiel knüpft sie an Vokalartistinnen wie Lisa Gerard von Dead Can Dance oder Diamanda Galás an. Mit ihnen teilt sie Erinnerungen an erste Singversuche, wie man sich als junges Mädchen mit einer Fantasiesprache ausprobiert, jede Bedeutung implodieren lässt und den reinen Ausdruck freilegt. Überhaupt zitiert Björk emphatischer denn je die Kindfrau auf der Suche nach dem Unverstellten, das unersättliche, ungeduldige Mädchen, das seine Begierden noch nicht zügeln lernen musste, den Peter Pan, die „Venus as a boy“, die funkelnde Elfe aus Eisland, die nicht erwachsen und geschlechtsreif werden will und deshalb – Achtung, Männerfantasie erfolgreich umsegelt – nicht nur lieblich weiblich, sondern auch übellaunig und boshaft ist. Einen Wimpernschlag später gibt Björk die Nixe, die einen aus der Zelle ihrer Songs befreit und ins kühle – oder besser körperwarme – Nass zieht. Nur schade, dass diesmal die schöne Stilisierung zum Cyborg fehlt, zur Göttin, deren Tempel die Megalopolis, deren Orakel der Kopfhörer ist.

Björk ist nicht nur eklektisch in ihrer Selbstdarstellung, sie arbeitet genauso in der Suche nach den richtigen Puzzlestücken in ihrer Musik. Zunächst einmal die Tradition: Man hört eine Inuit-Obertonsängerin aus Grönland und einen isländischen Chor, der bereits in Aufführungen von Stücken des isländischen Komponisten Jón Leifs aufgetreten ist. Auch dass Björk in zwei Liedern auf Isländisch singt, diese urige Sprache, die einzige klassische nordische mittelalterliche, die noch erhalten ist, ruft steinalte Erzählungen auf, die Edda und andere Isländersagas von Wikingern und ähnlich wilden Kerlen, wie sie einem zuletzt im „Herrn der Ringe“ aufbereitet wurden.

Nun könnte das alles ja ganz schön Richtung Folklore kippen. Doch davor ist Björk wie immer gefeit. Schließlich hat sie sich auch für diese neue Platte den neuesten heißen Scheiß aus den Musikmetropolen der Welt zu Füßen legen lassen. Als Meister des Beatbox tritt Rahzel von den Roots in Erscheinung, neben vielen anderen singt fürderhin Mike Patton von Faith No More, und Beyoncé kam nur aufgrund logistischer Probleme nicht zum Einsatz. Uff. Man ist es nicht anders gewohnt von Björk, die sich beharrlich überall das Beste sampelt und dann daraus das Elementarste zieht – sich zwischen Karlheinz Stockhausen und, mit ihrer früheren Band Sugarcubes, Punk bewegte, Jazzstandards sang und sich kurz darauf ihr erstes Soloalbum von Londons Clubmusik Anfang der Neunziger neongelb färben ließ, einmal fast Tricky und ein andermal fast Goldie heiratete, Songs machte wie fürs Musical, Harfen und Violinen in den Pop stopfte, indische Rhythmen, Tango, Hip Hop und R ’n’ B. Das alles und noch viel mehr schwingt auch auf ihrem neuen Album mit, und würde es das nicht tun, es klänge nicht reduziert und konzentriert, sondern einfach nur langweilig.

Ob dieses dichte Bollwerk von einer Platte ebenso großen Erfolg haben wird wie ihr letztes, nicht weniger schwieriges, aber eher abstraktes, instrumental überladenes Album „Vespertine“? Wahrscheinlich schon, denn das Geheimnis der Björk war und ist ihre intime Stimme zwischen Ekstase und Schluckauf, dieses Gefühl, als stünde eine alte Bekannte im heimischen Wohnzimmer , wenn man eine CD von ihr einlegt. Manchmal aber, da kann auch etwas ganz anderes passieren beim Hören von „Medúlla“: Auf einmal schraubt sich Björks Stimme doppelt und vierfach in die Ohren, da fühlt man sich plötzlich penetriert und überfordert. Man ertappt sich, endlich wieder Banause sein zu wollen, diese überspannte Björk einfach mal eine Weile abzuschalten, nur eine kleine Weile. Dann fragt man sich: Gibt es wirklich die Stimme, die frei ist von jedem Klischee, jeder mechanischen Routine, hat man nicht jeden Seufzer der Björk schon einmal irgendwo anders gehört?

Tja, es gibt eben kein Entkommen. Die Medúlla ist nicht einfach so zu haben, sie ist ein Kunstprodukt, das trainiert werden will. Davon lenkt auch nicht ab, dass Björk ihre Idee zum Album zufällig entdeckt haben will, indem sie im Studio zum Spaß die Instrumente abstellte und, huch, auf einmal ihre verstellten Songs wiederfand. Auf der einen Seite schützen Aussagen wie diese vor Esoterik. Auf der anderen Seite schminken sie nicht den Kreativitätsterror dieses ewigen Mädchens schön. Björk ist unter Hippies groß geworden, in einer Atmosphäre, in der man wohl einfach glauben musste, dass die Welt voller Wunder ist, dass es überall „Hidden Places“ gibt, dass sich selbst aus den Kuchenkrümeln unterm Küchentisch noch die sonderbarsten Geschichten lesen lassen. Diese Nötigung, immer fantasievoll sein, sich immer wieder neu erfinden zu müssen, schließt Humor weitgehend aus. Ein echtes Genie kann nicht zugeben, dass es sich auch mal schinden muss. Und so schmiert Björks kunstvoller Antipop eben manchmal ab, wirkt so überspannt ambitiös, dass man einfach nur mal wieder ein hübsches, unterhaltsames Lied von Björk hören möchte, eines, das nicht ganz so stur in Beschlag nimmt wie diese neue Platte.

Aber würde man sich von Björk wirklich ein unauffälliges, eingängiges Popalbum wünschen? Naja, irgendwie auch wieder nicht. Der Mainstream, wie er ist, die Talentschmieden und Hitfabriken, die ja wirklich ziemlich schrecklich sind – sie brauchen einfach ihren Fluchtpunkt, ihren schicken, ihren wirklich wunderschönen Hoffnungsschimmer, für den sich jeder begeistern kann: Die Vorstellung, dass man nur hinter die sieben Berge muss, nach Island zum Beispiel, und dass man sie dann schon finden wird, die Inspiration, irgendwo in sich drin. Björk wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren machen können, was sie will – vielleicht sogar ein Album mit weißem Rauschen und Lautpoesie –, und damit die Charts und Playlisten der Radios, die Cover der Modezeitschriften und Titel der Feuilletons – und den Soundtrack sämtlicher angesagter Bars und Partys einnehmen. Auch wenn sie nach dieser Olympiade vielleicht nicht schon wieder zur nächsten nach China darf: Auf die nächste Expo schafft sie es bestimmt.