Die schöne Leiche

Bedeutet Realismus im Kino, dass man nur zeigen darf, was auch wirklich passieren kann? Unsinn, findet der französische Regisseur Jacques Rivette und erweckt in seinem wunderbaren Film „Die Geschichte von Marie und Julien“ die Toten zum Leben

von EKKEHARD KNÖRER

Alles beginnt im Dunkeln, Stimmen, Geräusche, der Vorspann: „Die Geschichte von Marie und Julien“. Wenn es Licht wird auf der Leinwand, ist das Bild schon in Bewegung. Eine Kamerafahrt, die, wie es scheint, nichts Bestimmtes in den Blick nimmt: einen Park, Paare, Passanten, Büsche. Die Kamera fährt auf einen Mann (Julien) auf einer Bank zu, er sitzt zurückgelehnt, er schläft. Er sieht eine Frau (Marie), eine Traum-, eine Göttinnenerscheinung, er steht auf, sie sprechen miteinander über eine Begegnung, die eine Weile zurück liegt. Sprechen wir, sagt sie, über „Erlösung“. Sie zieht ein Messer, dann: Schwarzblende. Ein Traum. Vielleicht. Sehr bewusst hält Jacques Rivette offen, was Wirklichkeit ist, was Traum und was Auftritt eines Gespensts.

Später nämlich, wenn Marie und Julien einander erneut gefunden haben, wird die Geschichte von Marie (Emmanuelle Béart) und Julien (Jerzy Radziwilowicz) zur Begegnung von Lebenden und Toten. Julien schläft mit Marie, und Rivette inszeniert sie, als wäre sie das Leben selbst. Zum Liebesplot kommt ein Kriminalplot, eine Verdopplung, eine weitere Frau, die nur den Namen Madame X trägt. Julien wird Madame X (Anne Brochet) erpressen; es begegnen sich, in einer weiteren Szene wie im Traum Marie und die Schwester von Madame X, die eine Untote ist. Eine mysteriöse Geschichte, eine Verschlingung mysteriöser Geschichten, eine Verschlingung der Geschichten zu einem Mysterium um Leben und Tod. Jacques Rivettes neuestes Werk ist ein Geisterfilm, und auf den ersten Blick könnte man ihn in Beziehung setzen zu Filmen der letzten Jahre wie M. Night Shyamalans „The Sixth Sense“ oder Hirokazu Koreedas „After Life“. In Wahrheit aber kann man über „Die Geschichte von Marie und Julien“ kaum reden ohne eine doppelte Bewegung zurück in die Geschichte des Kinos.

Die erste Bewegung führt zurück in die Siebzigerjahre, zu Rivettes größtem Projekt, einem Zyklus in vier Filmen unter dem bezeichnenden Titel „Szenen des parallelen Lebens“. Bezeichnend ist er, denn nichts charakterisiert das Werk von Jacques Rivette mehr als die Existenz von parallelen Leben, von Hinterwelten, die die vordergründig erzählten Geschichten doppelbödig machen, sie durchdringen oder von ihrer geraden Bahn abbringen. Rivettes Plots sind von Verschwörungen heimgesucht oder bewegen sich auf der Grenze zwischen Wirklichkeitsebenen, auf der Schwelle einer Überschreitung, die oft als Ineinander von Leben und Theater inszeniert wird. Dem geplanten Zyklus sollte „Die Geschichte von Marie und Julien“ als erster Teil voranstehen, als Überschreitungs- und Parallellebensgeschichte par excellence, als Film über das Miteinander von Lebenden und Toten.

Entstanden sind von den geplanten vier Filmen damals nur zwei. Kurz nach Beginn der Dreharbeiten zu Teil eins (der aber erst als dritter Film des Zyklus entstehen sollte) verschwand Jacques Rivette spurlos; der Film und der Zyklus wurden nie vollendet. „Die Geschichte von Marie und Julien“ blieb ein Phantom, bis sie nun völlig unerwartet aus spärlich vorhandenen Skizzen neu erfunden und doch noch gedreht wurde. Der Unterschied in Stil und Ton zu den zwei vor bald dreißig Jahren entstandenen Werken, dem Göttinnenzweikampf „Unsterbliches Duell“ und der Piratengeschichte „Nordwestwind“, ist frappierend. So frappierend, dass man viel lernen kann über die Entwicklung Rivettes, aber auch darüber, welche Extravaganzen sich das Kino damals gestatten durfte.

Das Prinzip der beiden älteren Filme ist der unverfrorene Anachronismus. Die Intrigen bleiben undurchsichtig, dazu kommen die neutönende Experimentalmusik und die Musiker, die im Raum platziert werden, aber im Plot des Films nichts zu suchen haben. Die Wahrheit des Bildes und der Figuren offenbart sich, dies die implizite These, gerade in der radikalen Zerstörung der Einheit des Illusionsraums. Es gibt nur die Regeln, die als pure Setzung zur Geltung gebracht werden. Alles ist möglich: Magie, Auferstehung, Göttinnen, Lederkluft, Piratenschlacht, Rezitation, Kampf von Sonne und Mond. Die Wirklichkeit erfindet sich selbst vor den Augen des Betrachters. Rivettes Filme dieser Phase dokumentierten in letzter Instanz nichts als diesen Vorgang des Erfindens, der überall hinführen kann und nirgends.

Von den Anfängen der Nouvelle Vague – dies nun die zweite Bewegung zurück – scheint Rivette mit seinem Parallelleben-Zyklus weit entfernt. Gilt doch André Bazin, der in den 50er-Jahren entscheidenden Einfluss auf die jungen Kritiker der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma und ganz besonders auf die zeitweiligen Chefredakteure Eric Rohmer und Jacques Rivette ausübte, als Vertreter des Realismus im Film. Rivette aber, ein treuer Schüler Bazins, hat immer schon vorgeführt, dass es für die Bazin’sche Konzeption des Kinos und des Realismus gleichgültig ist, ob das, was man auf der Leinwand sieht, wirklich passieren könnte.

Denn für Bazin ist das Kino gerade als realistisches ein Medium der „Mumien“, der Überwindung des Todes durch Aufzeichnung der Wirklichkeit. Die Wahrheit des Mediums liegt in der Wirklichkeit der lebenden Toten, die die Leinwand bevölkern. Deshalb ist der Direktton wichtig, die lange, tiefenscharfe Einstellung ohne Schnitt. Die Wahrheit der Bilder liegt nicht im Wahrscheinlichen, sondern in der zur Lektüre auffordernden Dokumentation dessen, was sich vor der Kamera befindet: des Raums, der Schauspieler, des Lichts, der Farbe, der Bewegung. Die Effekte des Schnitts, die Erzeugung von Spannung und Thrill, die Kamerabewegung, die gefühlsverstärkende Begleitmusik, auch die schauspielerische Rollenbeherrschung: All dies ist Trug.

Als einziger unter den Regisseuren der Nouvelle Vague sieht Rivette in diesem Bazin’schen Konzept das Potenzial einer radikalen Öffnung aufs Fantastische. Lustvoll plündert er den Fundus des Theaters, der Literatur und des Genre-Kinos. Ohne Rücksicht auf die Erwartungen des Zuschauers kreuzt er gerade in den beiden frühen Filmen das Wirkliche, das Mögliche und das Unmögliche. Die unter diesen Bediungungen mögliche Freiheit des Setzens und Erfindens von Regeln und Abweichungen geht ins Unendliche.

Wenn Rivette nun in „Die Geschichte von Marie und Julien“ Geister auftreten lässt, dann ist das, zur Darstellbarkeit verdoppelt, die Verhandlung der Bazin’schen Grundfrage: Was sehen wir, wenn nicht ein höchst anwesendes Gespenst? Das Gespenst hat den Körper von Emmanuelle Béart, die wie im Traum ins Leben des Uhrmachers Julien tritt. Die Regeln, nach denen die Linien zwischen lebend und tot zu ziehen wären, erfindet sich der Film, und er nimmt sich bis zur letzten Sekunde die Freiheit, sie mit einer kleinen Geste wieder über den Haufen zu werfen. Wer untot ist, kann leben, die Geister können als Bazin’sche Mumien ins Leben auf der Leinwand finden. Jacques Rivette stellt Bazin vom Kopf auf die Füße: Das Kino hat als realistisches alle Freiheiten. Im Kino leben wir in Wahrheit mit Gespenstern.