Pay and Pray

Es gab Showeinlagen als Zugeständnis an die Erwartungen des Schauspiels Frankfurt, das als Veranstalter recht ordentliche Eintrittspreise verlangte – allerdings keine Show: Christoph Schlingensief gastierte mit seiner „Church of Fear“ in Frankfurt

Schon einmal wurde das Bockenheimer Depot in Frankfurt, damals noch das TAT unter der Leitung von Tom Kühnel und Robert Schuster, zur Kirche: Auf kargen Holzbänken saß vor zwei Jahren die kleine Gemeinde und schaute den Schauspielern beim Schuften zu, sogar Schuster stand in seiner „Dogma“-Inszenierung nach Strindbergs „Vater“ da und schaufelte und schaufelte einen Erdberg um. Es war ein anstrengender und fruchtloser Abend, mit sichtbarer Kraftanstrengung arbeitete man für die künstlerische Erlösung, und doch gab es nur Jammertal und Scheitern und Ernst. Puritanischer Protestantismus pur.

Auch Christoph Schlingensief hat bekanntlich ein Faible für Predigt und Moral; ein Workoholic ist er ohnehin. Doch bei aller protestantischer Persönlichkeitsstruktur überwiegt eine katholische Leidenschaft fürs Leben, für theatralen Weihrauch, üppige Einfälle, kleinteilige Rituale und große Gesten. Sie gehören zu seinen Performances, Inszenierungen und Projekten seit langem, doch in der „Church of Fear“, die nun ihren Altar kurzzeitig im Depot aufgebaut hatte, sind sie ohne Verbrämung als religiös erkennbar: Erstmals mit den viel besprochenen Pfahlsitzen bei der Biennale in Venedig sichtbar geworden, war die „Church“ inzwischen in Katmandu und pilgerte nun auf Einladung des Schauspiels Frankfurt an den Main. Es ist – das wird nicht nur durch die immer wieder eingespielte „Parzival“-Ouvertüre deutlich – bereits der Beginn des langen Weges zur nächstjährigen Eröffnungsinszenierung in Bayreuth, den Schlingensief gleichzeitig suchend und konsequent beschreitet. Im Parzival hat Hamlet Schlingensief seine neue Bestimmung gefunden.

Die „Church of Fear“ vereinigt zahlreiche Themen aus seiner bisherigen Arbeit – und entdeckt die Angst als eigentliche Motivation: Habt Angst! Fürchtet euch! ist kirchliches Motto seit je und soll wohl vor allem dem Machterhalt der Institution dienen, ist zugleich aber psychoanalytischer Therapieprozess: sich den eigenen Ängsten stellen und sie selbst beherrschen. Vor allem aber ist es bei Schlingensief eine politische Forderung: das Monopol der Angst zu brechen, den religiösen und politischen Institutionen und Bewegungen den Terror zu entreißen, um ihn zu demokratisieren. Indem Schlingensief scheinbar absurd konsequent denkt, beginnt das Denken überhaupt: Mehr noch als der Religion hat sich Schlingensief immer der Aufklärung verschrieben.

Manifest wird die „Church of Fear“ in Frankfurt zuerst als kuscheliger Kirchentag im Bockenheimer Depot, wo die Pilger eintreffen wie bei einer politischen Kundgebung: mit Transparenten und einem rollenden Stoffesel im Schlepptau. Keine eigentliche Show, sondern ein Beisammensein zelebriert Schlingensief, mehr Kirchenfreizeitleiter als Schamane: gemeinsam Gemüseschnipseln, Kochen, Reden, da und dort eine kleine Predigt, eine Beichte, ein paar Videos von anderen Religionen. Zwischendrin wird gecastet: Sieben Freiwillige werden gesucht, „Arbeits-, Obdach- und/oder Hoffnungslose“, die sich „ihren Ängsten stellen wollen“ und sechs Tage auf Pfählen an der zentral gelegenen Hauptwache hocken werden – nach Venedig und Katmandu das dritte Pfahlsitzen der „Church“.

Showeinlagen (als Zugeständnis an die Veranstaltererwartungen), aber keine Show. Auch hierin ist diese Kirche eine konsequente Weiterentwicklung von „Chance 2000“, der Partei, die mit dem Motto „Wähle dich selbst“ zur Bundestagswahl 1998 antrat. „Habt Angst!“ zielt in die gleiche Richtung und müsste vielleicht genauer heißen: „Nehmt euch das Recht, eure eigene Angst zu haben.“ Ähnlich wie „Chance 2000“ ist die „Church of Fear“ ein soziales Projekt. Vor allem aber auch eine Strukturperformance: Wenn „Church“-Mitglied Isidor aus Memmingen verkündet, es brauche 10.000 Mitglieder, um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden und dann auch Kirchensteuer kassieren zu können, dann ist das so wenig ironisch, wie es ironisch war, mit „Chance 2000“ auf die Wahlzettel zu kommen: als richtige Partei. In diesem Spiel mit Strukturen ragte plötzlich die Kunst in die Politik und war nicht mehr von ihr zu unterscheiden – dafür unterschied sich die Politik plötzlich von sich selbst.

Wie nah die beiden Projekte miteinander verwandt sind, zeigt schon die Wortwahl: „Wählt CoF“ steht auf einem Flugblatt. Und genauso wie damals versammelt Schlingensief eine Schar von Helfern um sich, Kirchenmitglieder, Laienprediger, Köche, Sänger, Pfahlhocker, alle nicht bezahlt, sondern freiwilliger Teil einer Bewegung.

Da ist es mehr als nur ein schöner Nebeneffekt, dass sich solche soziale, strukturelle Kunst schwer rastern lässt. Zwar unterminiert das Schauspiel mit der mangelnden Sensibilität eines großen Apparates das Projekt durch teure Eintrittskarten und Kontrolleure und schürt so falsche Erwartungshaltungen – doch Schlingensief, der weiß, „dass ihr diesen Druck mitgebracht habt, dass was passieren muss“, interessiert sich nicht für diese Erwartungen. Ohnehin ist er immer auf der Flucht vor den Erwartungen an Skandal, Action, Unterhaltung, Provokation – als Hase aber bislang immer dem Igel Publikum voraus. Und so bleibt auch die „Church of Fear“, während die sieben Pfahlhocker noch bis Samstag an der Frankfurter Hauptwache um die Wette hocken, berechenbar nur darin, dass sie unberechenbar schwankt zwischen penibel konkret und völlig diffus, auf schmalem Grat zwischen Fake und Wahrhaftigkeit, Pathos und Chaos, Religion und Theater.

FLORIAN MALZACHER