Die große Stille nach dem kurzen Fest

Hundert Tage nach der EU-Beitrittsfeier ist im sächsischen Zittau wieder der triste Alltag eingekehrt. Wegen gestiegener Preise hat die Zahl der Grenzgänger sogar abgenommen. Die Zukunft weckt hier mehr Ängste als Hoffnungen

ZITTAU taz ■ Für das beschauliche Zittau war es wie ein Rausch. Gleich zwei deutsche Kanzler kamen am 1. Mai zur EU-Beitrittsfeier ins ostsächsische Dreiländereck, Amtsinhaber Gerhard Schröder und Vorgänger Helmut Kohl. 200.000 Besucher pilgerten zur EU-Festmeile am Grenzfluss Neiße, die Menge ergötzte sich an Theater und Feuerwerk. In Zittau war keine freie Matratze mehr zu bekommen. Künstler, Presse und Funk hielten die Stadt besetzt, allein die britische BBC mietete ein ganzes Hotel.

Für drei Tage wachgeküsst, droht der 27.000-Einwohner-Stadt im Talkessel vor dem Zittauer Gebirge nun erneut der Dornröschenschlaf. Im Hotel Dresdner Hof ist trotz Hauptsaison nur jedes dritte Bett belegt, bedauert Chef Klaus Richter. Die Zahl der Tagestouristen gleicht noch immer der vom Vorjahr, sagt Tourismuschefin Elke Otto. „Nach der großen Feier ist wieder mehr Ruhe eingekehrt, als uns lieb ist“, klagt Peter Schmidt im Hauptgebäude der örtlichen Fachhochschule am Stadtring. Schmidt ist Präsident der Neiße-University, die ihre Studierenden jährlich wechselnd in den drei Universitäten des Länderecks ausbilden lässt.

An den beiden Grenzübergängen der Stadt haben Beamte die „Zoll“-Schilder mit schwarz-gelbem Klebeband überdeckt. Die Wartezeiten sind minimal, seitdem niemand mehr den Pkw-Kofferraum öffnen muss.

Frank Fetzko kann jetzt länger ausschlafen. Der 33-jährige Autoschlosser pendelt für seinen Job als Tankwart täglich von Zittau in die polnische Nachbargemeinde Sieniawka.

„Man fährt durch und winkt mit dem Pass“, sagt auch Miroslav Landfeld. Der Gynäkologe aus der tschechischen Nachbarstadt Liberec arbeitet am Zittauer Krankenhaus, in Deutschland fand sich keiner für den Job. Doch die offenen Grenzen locken auch Ungebetene. Die Ortspolizei plagt der erhöhte Fahrradklau, an einer Schule wurden polnische Jugendliche erwischt – den Bolzenschneider im Rucksack, erzählt einer aus dem Rathaus. Umgekehrt klagen die tschechischen Grenzbeamten über illegalen Müllexport. An 23 Übergängen führten sie wieder Fahrzeugkontrollen ein, nachdem sie in deutschen Autos pralle Abfallsäcke entdeckt hatten.

Fußgänger, die nur zum Einkaufen auf die andere Seite der Neiße wechseln, sind dagegen seltener geworden. Mit dem Beitritt vervierfachte Tschechien seine Mehrwertsteuer, in Polen stiegen die Lebensmittelpreise im Vergleich zum Vorjahr um zehn Prozent. Auf dem Polenmarkt hinter der Stadtgrenze haben viele Stände dichtgemacht. „Nur noch Händler aus der Nähe versuchen, mit CDs und Kassetten etwas zu verdienen“, sagt Helfried Schötzig, kommunaler Wirtschaftsförderer in Zittau.

Die Nachfrage nach deutschem Gewerbeland dagegen steige. Ein italienischer Metallveredler will sich hier niederlassen, „um auch aus dem Osten Metallteile zu verchromen“, berichtet Schötzig von einem Gespräch Mitte Juni. Zeichen der Hoffnung in einer Gegend, wo jeder vierte Erwerbsfähige ohne Job ist.

Sorgte bisher der Termin 1. Mai 2004 für Stirnfalten bei den Unternehmern, treibt die Chefs nunmehr die Angst vor dem Jahr 2011. Dann fallen die letzten Freizügigkeitsgrenzen, die osteuropäische Konkurrenz prasselt ungefiltert auf die deutsche Wirtschaft ein.

Bauunternehmer Werner Kirschner reagierte schon jetzt. Auf der Beitrittsfestmeile traf er am 1. Mai einen tschechischen Kollegen. Seit einem Schwatz bei böhmischem Bier ist Kirschner angesteckt vom Grenzgeschäft. Er denkt an billige Kanthölzer und Zement aus dem Nachbarland – und an seine Bilanz. Der Betrieb, der in Sichtweite des Grenzübergangs liegt, schrumpfte seit 1995 von 50 auf 10 Mitarbeiter. Doch Kirschner ist Idealist: „Auch wenn es mich wirtschaftlich hart trifft, die Erweiterung ist der richtige Weg.“

Der Ansicht sind wohl nicht alle. Dass extreme Parteien zur sächsischen Landtagswahl im September Zulauf erfahren, will hier keiner ausschließen. „Die Leute werden immer unzufriedener und damit radikaler“, sagt Thomas Wagner. Hinter dem Rathaus führt der 36-jährige Blondschopf einen Sportartikelladen. An der Tür wehen rote Fähnchen. „Willkommen“ heißt es darauf in den Sprachen des Dreiländerecks.

Der Görlitzer DSU-Stadtrat Jürgen Hösl-Daum europäisierte den Wahlkampf dagegen auf seine Weise. Mit zwei 22- und 24-jährigen Zittauern klebte er im benachbarten Bolesławiec, dem früheren Bunzlau, Hetzplakate gegen die Vertreibung der Deutschen nach 1945. TILMAN STEFFEN