sozialquote à la ddr
: Wie aus einer Ingenieurstochter eine Angehörige der Arbeiterklasse wurde, damit sie Abitur machen konnte

In der DDR gab’s im Klassenbuch die Spalte „soziale Herkunft“: „I“ waren Angehörige der Intelligenz, „A“ Arbeiter

Gerade reden alle wieder über die Sozialquote. Die Linkspartei will sie einführen, um mehr Kinder aus den unteren sozialen Schichten auf die Gymnasium zu bekommen. Die Idee macht mich stutzig. Sozialquote? Das hatten wir doch schon einmal. Damals, vor langer Zeit in der DDR.

Angefangen hat es sogar noch etwas früher: Als mein Vater 1948 in der 8. Klasse einer Dorfschule in Thüringen war, ließen die Lehrer nicht locker: Sie wollten seine Eltern überreden, ihn zur Oberschule zu schicken, wie das Gymnasium damals hieß. Das lag nicht nur daran, dass mein Vater gute Schulnoten hatte. Er war Sohn armer Bauern, und in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone wurden Arbeiter- und Bauernkinder bevorzugt zur höheren Schulbildung zugelassen. Schließlich nannte sich die spätere DDR Arbeiter-und-Bauern-Staat. Da sollte es eine neue geistige Elite geben, die sich aus genau diesen Kreisen rekrutierte. Es waren Hungerjahre, und meine Großeltern hätten die Hilfe meines Vaters auf dem Feld wie jeder Kleinbauer damals dringend gebraucht. Aber die Lehrer gaben nicht auf, und meine Oma knickte irgendwann ein, sehr zur Freude meines Vaters, wie er später wieder erzählte. Gut, dachte sie, soll einer ihrer Söhne doch zur Schule in die Stadt gehen. Das war ohnehin der Sohn mit den zwei linken Händen, und zum Lernen taugte er.

Meine Oma wusste noch nicht, dass ihr sieben Jahre später die Lehrer die Zustimmung zur Schulbildung eines weiteren Sohnes abrangen. Und sie wusste auch noch nicht, dass sie einmal mächtig stolz sein würde auf ihren Sohn, der in der DDR-Hauptstadt Berlin in der Grundlagenforschung arbeitete und einen Doktortitel vor dem Namen trug.

Eine ganze Generation später gab es die Arbeiter- und Bauernquote immer noch für die Zulassung zu der Schule, die jetzt Erweiterte Oberschule hieß und mit dem heutigen Gymnasium vergleichbar ist. Die Plätze dort waren knapp, und nicht jeder durfte Abitur machen. Neben den Schulleistungen und politischen Kriterien war die soziale Herkunft ein wichtiges Argument zur Zulassung.

Doch was bis in die 60er-Jahre hinein dem Austausch der alten Machtelite aus der Weimarer Republik und der NS-Zeit durch neue soziale Schichten diente, fiel den Erfindern jetzt auf die Füße: Denn die Kinder derjenigen, die in der DDR Führungspositionen innehatten oder Ärzte, Wissenschaftler und Lehrer waren, waren beim Zugang zu höherer Schulbildung plötzlich benachteiligt. Und weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, gab es Tricks, die Quote von Arbeiter- und Bauernkindern neu zu interpretieren.

Meine Klassenkameradin Iris beispielsweise war ein kluges Mädchen, sie wollte zur Erweiterten Oberschule. Und die Lehrer sahen das auch so. Nur: Sie mussten auf ihre Quote an Arbeiterkindern kommen. Iris’ Vater war aber Ingenieur und noch dazu in der Verwaltung tätig. Aber es fand sich eine Lösung: Vor seinem Studium hatte der Vater den Beruf eines Werkzeugmachers erlernt. Ein Werkzeugmacher war schließlich ein waschechter Arbeiter. Und so wurde im Klassenbuch in der Spalte „Soziale Herkunft“ aus dem „I“ für „Angehörige der Intelligenz“ ein „A“ für „Arbeiter“. Der Weg für Iris zum Abitur war frei.

Es gab noch Absurderes: Die Kinder hauptamtlicher Parteifunktionäre waren per Definition alle Arbeiterkinder. Das galt sogar für die Kinder von Professoren an der Parteihochschule. Schließlich galt die SED ja als Arbeiterpartei. Auch Kinder von Berufsoffizieren der NVA waren per Definition Arbeiterkinder. Denn wen verteidigte diese Armee? Einen Arbeiter-und-Bauern-Staat! Wo Kinder von hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern einsortiert wurden, habe ich nie erfahren. Denn offiziell gab es die gar nicht. „Echte“ Arbeiterkinder haben von der Quote sicher auch profitiert. Aber in meiner Abiturklasse gab es eher wenige von ihnen.

Ich selbst konnte auch mit der größten Fantasie nicht zum Arbeiterkind uminterpretiert werden. Meine Eltern arbeiteten in der Grundlagenforschung. So musste ich mir meinen Weg zum Abitur an der Quote vorbei erkämpfen. MARINA MAI

Die Autorin wurde 1968 in Ostberlin eingeschult und acht Jahre später zur Erweiterten Oberschule, der DDR-Form des Gymnasiums, geschickt