Als die Bilder das Laufen verlernten

Das Versprechen an der Schwelle zwischen Kinosaal und Straße: Winfried Pauleits Buch „Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino“ untersucht den merkwürdigen Brauch, mit Standbildern auf Laufbilder zu verweisen. Doch trotz aller Detailfülle bleibt das Wesen des Standbilds weiter rätselhaft

VON DIRK SCHAEFER

Im Dunkel des Kinosaals schreckte man früher gelegentlich auf, wenn der Filmstreifen während der Vorführung im Projektor hängen blieb und die Bilder zum Stillstand kamen. Dann trat in Erscheinung, was unsichtbar bleiben muss, damit der Film sichtbares Leben gewinnt: das Einzelbild auf dem Zelluloidstreifen – um in der Hitze der Projektorlampe sogleich zu zerfallen wie ein Vampir im Sonnenlicht. Nicht ohne Grund findet das Filmstandbild seinen Platz im Kino traditionell an der Pinnwand im Foyer, und der richtige Moment, es sich anzusehen, ist der, da man die Schwelle zwischen Straße und Kinosaal überschreitet: vor dem Film oder danach.

Winfried Pauleits Internetseite für Filmkritik heißt nachdemfilm.de. In seinem Buch „Filmstandbilder: Passagen zwischen Kunst und Kino“ benutzt er das Kinofoyer mit seinen Schaukastenbildern als Ausgangspunkt für eine Untersuchung jenes im Grunde merkwürdigen Brauchs, mit Standbildern auf Laufbilder zu verweisen, eine Praxis, die man ja auch in Zeitschriften und illustrierter Filmliteratur findet. Pauleits Arbeit, die an einem der kleinen Rituale des Kinobesuchs ansetzt, erweitert sich daher in Richtung einer allgemeinen Theorie eines neuen Mediums zwischen Stillstand und Bewegung, des Filmstandbilds.

Wie sein Gewährsmann Roland Barthes, der 1970 als erster eine solche Theorie skizziert hatte, verwischt Pauleit dabei die Unterscheidung zwischen den Einzelbildern vom Filmstreifen und jenen mehr oder weniger treu nachgestellten „Standfotos“, die man üblicherweise im Kinofoyer zu sehen bekommt. Das Konstrukt „Filmstandbild“ – schon sprachlich ein Neologismus – changiert daher: In mancher Beziehung bloß äußerliches Beiwerk wie Trailer, Plakat oder Starfoto, ist es in anderer Hinsicht elementarer Bestandteil des Films. Mag Pauleits theoretischer Apparat nun infolge dieser gewagten Konstruktion gelegentlich ins Stocken geraten und sein „Filmstandbild“ sich vor den Augen des Lesers in seine Bestandteile zersetzen, so bleiben seine Überlegungen dennoch hochinteressant. Immerhin steht das Schreiben über Film selbst auf jener Schwelle, die Pauleit als den Ort des Filmstandbilds ausmacht: Stets zu früh oder zu spät, ist es gegenüber dem kinematografischen Ereignis auf trügerische Erinnerungen angewiesen.

Doch kann man, wie Roland Barthes, das Standfoto im Foyer auch als Versprechen eines Filmerlebnisses betrachten, das im Kinosaal nie eingelöst wird: Ist der mögliche Film nicht immer spannender als der verwirklichte? Nichts illustriert dieses Problem besser als Cindy Shermans berühmte Serie von Selbstproträts, die „Untitled Film Stills“. Deren Analyse bildet dann auch den Höhepunkt des zweiten Teils von Pauleits Arbeit, in dem er der Aneignung des Filmstandbilds durch die bildende Kunst seit den 60er-Jahren nachgeht und eine Art Rückaneignung durch das Kino versucht. Denn auch in Galerie oder Museum (z. B. als Teil der Collagen Richard Hamiltons oder John Baldessaris) verweist das Filmstandbild nicht nur auf das Filmische im Allgemeinen, sondern – Pauleit insistiert – auf ein spezifisches „kinematographisches Ereignis“.

Dessen Spuren folgt der Autor mit beträchtlichem Spürsinn. So kann er vier von Shermans „Untitled Film Stills“ nachträglich Filmtitel zuordnen; überraschenderweise handelt es sich um bekannte Werke des europäischen Autorenkinos der Sechzigerjahre. Statt um Kritik an Hollywoods Repräsentation von Weiblichkeit handelt es sich bei diesen Arbeiten Shermans offensichtlich um Hommagen einer Kinogängerin; und Pauleit kann sogar zeigen, dass Shermans ureigenstes Thema – Weiblichkeit als Maskerade, Kostümierung, Imitation – bereits in diesen Filmen problematisiert wird.

Der Stroemfeld-Verlag hat das Buch der Filmstandbilder in ein ansprechend bebildertes, durchaus Coffeetable-taugliches Format gebracht. Wenn trotz immenser Detailfülle das Wesen des Filmstandbilds am Ende rätselhaft bleibt, mag gerade dies ein Hinweis darauf sein, dass ihm als Forschungsgegenstand eine große Zukunft bevorsteht.

Winfried Pauleit: „Filmstandbilder: Passagen zwischen Kunst und Kino“. Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Main 2004, 24 €