Casablanca liegt auf Rügen

Der junge Grüne sagt: „Bei so wenig Leuten bekomme ich Ämter, um die ich woanders kämpfen müsste“

aus Bergen MATTHIAS BRAUN

Wer träumen will, geht ins Gewerbegebiet. So ist das in Bergen, der größten Stadt auf Deutschlands größter Insel. So ist es auf Rügen im äußersten Nordosten der Republik. Das hiesige Kino steckt in einem Zweckbau am Rande der 15.000 Einwohner zählenden Stadt, zusammen mit einem Schuhdiscounter und einem Supermarkt. Vor dem weiß getünchten Kasten liegt ein riesiger Parkplatz. Auf dem laden Schweden am Wochenende Alkohol kistenweise in Autos und Reisebusse, um ihn nach Hause zu karren. Nachts lassen Jugendliche die Motoren ihrer Gebrauchtwagen aufheulen. Die meiste Zeit aber ist der Parkplatz leer.

Drinnen führt aus dem verchromten Kinofoyer eine Glastür ins Casablanca. Ein Bistro, benannt nach dem Filmklassiker mit Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart. Ein Treffpunkt, so steht’s am Eingang geschrieben, der „Erholung und der guten Laune“. Die Getränkekarte wirbt dafür, Absinth zu trinken – „den legendären Drink der Kreativen“. Gesessen wird auf Korbstühlen, für die notwendige Behaglichkeit sollen mannshohe Zimmerpflanzen sorgen.

Das Casablanca ist der Treffpunkt von René Gögge und seinen Freunden vom Bergener Gymnasium. Gögge, ein hagerer 17-Jähriger mit reserviertem Blick, ist eines von zwei Rügener Grünen-Mitgliedern. Und er ist einer von vielleicht einem Dutzend politisch engagierter Jugendlicher auf der Insel. „Wer hier von Politik redet, wird auf der Straße grundsätzlich schief angesehen“, sagt er. Es klingt herablassend und ist doch nur eine Beobachtung.

Gögges Freunde heißen Carmen, Jule, Florian. Auf dem Gymnasium allesamt. Mit der Schule fertig im nächsten Jahr. Rüganer – wie sich die Eingeborenen nennen. Jung. Klug. Ungeduldig. Und voller Pläne, die wenig mit ihrer Insel zu tun haben. „Nach dem Abi ist Schluss“, sagt Florian. „Ich will Television Broadcasting in Amerika studieren“, sagt Jule. „Auf Rügen lässt sich wirklich gut Urlaub machen, aber hier leben, das geht kaum“, sagt Carmen. Alle wollen weg. Lieber heute als morgen. Je weiter, desto besser. Das Abitur ist ihre Fahrkarte. Es scheint, als sei das Bistro Casablanca die eigentliche Traumfabrik in Bergen. Nicht das Kino nebenan.

Wie der ganze Nordosten der Bundesrepublik hat auch Bergen ein Problem. Die Stadt schrumpft. Und sie vergreist. Seit 1995 haben sich sechs Prozent der Bergener woanders ein neues Zuhause gesucht. Von den Leuten, die jünger als 30 Jahre sind, zogen 21 Prozent weg. Sie hatten gute Gründe. Die größten Arbeitgeberinnen der Stadt sind ihre eigene Verwaltung und die örtliche Sparkasse. Das Gewerbegebiet wird nur zu 70 Prozent genutzt. Mehr als 20 Prozent der Stadtbewohner suchen eine Arbeit. Akademiker haben im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Arzt oder Pastor. Letzten Herbst kamen im Einzugsbereich des Arbeitsamtes Stralsund nur 4.638 Lehrstellen auf 6.043 Jugendliche Bewerber. Deshalb setzt sich der Osten in Bewegung. Richtung Westen.

Und deshalb klingt das Motto, unter dem die Schweriner Landesregierung am Wochenende rund 15.000 junge Leute in Sonderzügen aus Nordost nach Rügen fuhr, wie ein Hilferuf: „Prora03 – Wer, wenn nicht wir? Wo, wenn nicht hier?“ In den Ruinen des „Blocks 5“ des ehemaligen Nazi-Badeortes Prora haben sich für drei Tage die jugendlichen Bewohner der wirtschaftlichen Krisenregion McPomm getroffen. Vor 60 Jahren ist das Seebad gebaut worden, für 20.000 Kraft-durch-Freude-Urlauber. „Wir wollen zeigen, dass es in mecklenburg-Vorpommern Jugendliche mit eigenen Ideen gibt“, sagt Hinrich Kuessner, Chef des Vereins, der Prora03 organisiert hat. Die 15.000 von Prora werden, schiebt er hinterher, aus diesem Bundesland viel machen. Kuessner ist ein Rufer. Wenn er mit seinem Spaß- und Politevent die Abwanderung nicht stoppt, wird er irgendwann in einer Wüste stehen.

Anderthalb Kilometer Strand wurde für die ausreisewillige Jugend Mecklenburg-Vorpommerns eingezäunt. 53 Stunden Tanz, Beachvolleyball, Kino und Diskussion wurden für sie organisiert. 60 Jugendbands und 25 Theatergruppen wurden eingeladen. Das alles kostest für jeden Besucher maximal 30 Euro inklusive Anfahrt, Essen und Zeltplatz. Die Schweriner Landesregierung gab 300.000 Euro aus ihrem Zukunftsfonds. Freiwillige halfen unbezahlt bei der Vorbereitung.

Berliner Politprominenz hat die Gelegenheit für eine letzte Sommerreise an die Ostsee genutzt: Bundespräsident Johannes Rau, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und CDU-Chefin Angela Merkel. Rau hat im Schatten der totalitären Erholungsruine Prora betroffen in Fernsehkameras geblickt, und die Nachrichten haben darüber berichtet. „Bundespräsident Johannes Rau hat an die junge Generation appelliert, sich stärker in die Politik einzumischen.“

Am Samstagmorgen sitzt der Nachwuchskader der Rügener Grünen, René Gögge, bei einem Frühstücksgespräch mit Angela Merkel in der ersten Reihe. Um ihn herum rund 300 Eifrige. Von der Jungen Union, den Jungen Liberalen, Jusos, Gewerkschaften. Die Sonne scheint. Die kaputten Fenster der sechsgeschossigen Seebadruine glotzen wie leere Augen auf die Szene unter freiem Himmel. Merkel sitzt. Von den Jugendlichen haben die wenigsten einen Stuhl abbekommen. Das Gespräch dreht sich um Politikverdrossenheit. Man tauscht die bekannten Argumente. Was Merkel und ihre Zuhörer nicht sehen: In der letzten Zuschauerreihe herrscht Bewegung. 15-Jährige kommen von links und rechts. Hüpfen kurz hoch. Sagen: „Eh, guck mal, die Merkel.“ Und gehen weiter. Eine Stunde geht das so. Ankommen. Hochhüpfen. Weitergehen. Das ist der Rhythmus von Prora03. Ankommen, hochhüpfen, weitergehen.

Noch einmal 300 Gäste bekommen so die Merkel-Show zu sehen. Kurze Erregung im Angesicht der Prominenz. Man ist zum Spaß hergekommen. Auch Johannes Rau und Harald Ringstorff, der Ministerpräsident des Landes, bekommen das zu spüren. Ihre Gesprächskreise stoßen kaum auf größeres Interesse.

René Gögge hört eine ganze Stunde aufmerksam zu und findet hinterher, Merkel habe sich wacker geschlagen. Prora03 ist für den 17-Jährigen Werbung für Rügen. „Vielleicht hilft so eine Riesenveranstaltung, dass es in Mecklenburg doch irgendwann noch einmal klappt“, sagt er. Das Verliererimage des Bundeslandes entspreche zwar der Realität, aber es schrecke auch Leute ab, die hier mehr möchten, als ein paar Tage Urlaub zu machen. Deshalb macht er mit. Gögge hilft im Organisationsbüro von Prora03 als eine Art Mädchen für alles. Fegt hier mal einen Veranstaltungsraum sauber. Trägt dort mal eine Kiste von A nach B. Zumindest spart er durch das Ehrenamt den Eintritt.

Auch wenn Gögge Prora03 wichtig findet, hat der Gymnasiast sich eigentlich schon von Rügen verabschiedet. „Die Landesregierung wird mit Prora03 auf der Insel wenig bewirken“, sagt er. Wer wolle schon in einer Umgebung leben, in der nichts passiert. Für Akademiker gebe es hier auf lange Sicht keine Jobs. Und Abitur mache man ja nicht, um dann zu kellnern. Und dann wäre da noch seine Zukunft als Berufspolitiker. „Lokalpolitik finde ich überhaupt nicht spannend“, sagt der junge Grüne. Er sieht es als Glück, dass seine Partei so gut wie keine Basis hat in Mecklenburg-Vorpommern. „Bei den wenigen Leuten in der Partei komme ich in Ämter, um die ich woanders ewig kämpfen müsste.“ Bevölkerungsschwund als Karrieremodell. Gögges nächstes Ziel ist Berlin.

Hinten herrscht Bewegung. 15-Jährige hüpfen kurz hoch. Sagen: „Eh, guck mal, die Merkel.“ Und gehen weiter

Gögges Freunde haben sich gleich an den Strand verzogen. Ohne Umweg über Angela Merkel. Jule kniet am Rand eines Beachvolleyballfeldes und wartet auf ihr Spiel. Welchen Preis sie möchte, wenn ihr Team das Prora03-Turnier gewinnt? „Wenn es das gäbe, eine Greencard und einen Studienplatz in den USA.“

So eilig hat es Janine Arenz nicht mit dem Weggehen. Während Prora03 läuft, sitzt die 15-Jährige mit ihren Freunden Yvonne und Marcus in Bergen auf einem Spielplatz, den sie Holzer nennen. Der Name kommt von den zwei hölzernen Schaukeln, die hier rumstehen auf diesem von der Trockenheit etwas angedorrten Stück Wiese im Neubaugebiet Rotensee. Wie viele andere nach Prora fahren, das ging für die Zehntklässlerin nicht. „Kein Geld.“ Janines Mutter ist allein erziehend. Selbst wer auf Rügen arbeitet, verdient nicht die Welt.

Janine sitzt da auf der Bank, schüttelt die schwarzen Haare und sendet und empfängt permanent SMS-Kurznachrichten. Hinter dem Spielplatz steht ihre Regionalschule, eine Mischung aus Haupt- und Realschule. Viele ihrer Klassenkameraden sind auch nicht nach Prora gefahren. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich da was verpasse“, sagt sie und guckt aufs Display ihres Telefons.

Zwar mag Janine, wie René Gögge, Bergen nicht so richtig. „Als Kreisstadt ist das hier peinlich.“ Zwar träumt auch sie. „Eine Schwimmhalle wäre gut.“ Zwar erzählt sie, dass im Winter statt 20 Sorten Käse nur noch fünf verkauft werden, weil keine Touristen da sind. Zwar zitiert sie den oft gehörten Reim: „Drei Worte genügen – Runter von Rügen.“ Aber Janines Pläne klingen ein paar Nummern kleiner als die von René Gögge. Kein Amerika. Kein Berlin. Janines Fantasie reicht bis Kiel. Vielleicht Hamburg. Aber schon das bereitet ihr eher Kopfzerbrechen als Vorfreude. In einem Jahr will sie sich um eine Lehrstelle als Bankkauffrau bei der Bergener Sparkasse bewerben. Oder zum Zoll gehen. „Woanders“, sagt sie, „muss man sich nur an neue Regeln gewöhnen.“ Scheint, als habe sie wenig Lust darauf.

So vergeht in Bergen die Zeit. Die einen sagen, es solle bitte Licht werden. Die anderen sagen, dass es, wenn alle mit anpacken, irgendwann Licht wird – am Holzer wie in den Gewerbegebieten. In dem Filmklassiker „Casablanca“ kommentiert, bevor die Handlung anspringt, bevor Ingrid Bergmann auf Humphrey Bogart trifft, eine Stimme aus dem Off die Stimmung in der nordafrikanischen Hafenstadt: „Die Erfolgreichen schafften es – durch Geld, Einfluss oder durch Glück, – ein Ausreisevisum zu ergattern, und machten ihren Weg in die Neue Welt. Die anderen aber warten in Casablanca – und warten und warten und warten.“