„Ich habe keinen Plan B“

Benjamin Lebert glaubt an Gott und Joschka Fischer. Gerade hat er den Hauptschulabschluss nachgeholt und sein zweites Buch veröffentlicht. Ein Treffen mit einem jungen Erfolgsautor auf dem Weg zu sich selbst

von ANDRÉ PARIS

Die Dame vom Verlag war freundlich, aber irritiert. Worum es in diesem Text denn gehen solle, wenn nicht um das im August erscheinende Buch ihres jüngsten Autors? Um den Autor selbst! Um den Menschen Benjamin Lebert also, der – obwohl durch die Urheberschaft viel beachteter Internatsnotizen reich und berühmt geworden – gerade seinen Schulabschluss nachgeholt hat. Der Berlin im Februar den Rücken gekehrt hatte, um in seiner Geburtsstadt Freiburg Hauptschüler zu werden. So einfach ginge das nicht, fand man im Verlagshaus zu Köln und schickte ein Rezensionsexemplar der Erzählung „Der Vogel ist ein Rabe“, (Kiepenheuer & Witsch, 127 Seiten, 9,90 Euro) – mit der dringenden Bitte um Beachtung der Sperrfrist. Das war im Mai.

Als Benjamin Lebert dann vor ein paar Tagen in einem Freiburger Café erscheint, ist er nicht mehr derselbe. Zum einen, weil sein zweites Buch jetzt doch früher erschien als geplant, da sich ein inkontinentes Nachrichtenmagazin nicht an die Besprechungsfrist gehalten hatte und der Verlag diese Publizität dann doch nicht ungenutzt lassen mochte. Zum anderen, weil der 21-Jährige jetzt wieder täglich Antworten gibt, die im jeweiligen Feuilleton wie exklusive Poetensalven donnern, sich bei vergleichender Betrachtung jedoch als wiederholte Standardsätze erweisen. Vor allem aber hat Benjamin Lebert jetzt einen Schulabschluss.

Vor fünf Jahren, als 16-Jähriger, hatte er die neunte Klasse abgebrochen. Damals erschien sein Debüt „Crazy“, das manche für einen frühzeitigen Samenerguss hielten, der die Pubertätsprobleme wohlhabender Internatsschüler beschrieb und sich so liest, wie er heißt. Andere, unter ihnen arrivierte Kritiker und Feuilletonisten, gerieten ins Schwärmen und jubilierten, endlich entdeckt zu haben, wie diese deutsche Jugend tickt. „Crazy“ verkaufte sich fast eine Million Mal, wurde in 33 Sprachen übersetzt und verfilmt.

Der hagere, junge Mann ist kaum wiederzuerkennen. Lebert trägt ein gelbes Poloshirt von Lacoste, blaue Bermudashorts und Puma-Turnschuhe. Nicht das hellblond gefärbte „Herrlein-Wunder“ ist gekommen, das den Leser einst mit digitalisiertem blauem Blick vom Buchcover anstrahlte, kein Teenager mit reiner Haut und dem für die Pop-Ära typischen „Believe it or not: here I am“-Lächeln, sondern ein unauffälliger Jugendlicher mit mittelblonder Fransenfrisur und düsterem Fragezeichen zwischen Stirn und Kinn. Der Junge von nebenan, der nach den Sommerferien vielleicht eine Lehre in Vaters Kfz-Werkstatt beginnen muss, mit Bartflaum und noch nicht ganz gefestigter Stimme.

Fast 40 Grad Celsius werden an diesem Freiburger Nachmittag gemessen, wir flüchten ins Innere des Cafés. Ein gleichaltriger Freund aus Berlin gesellt sich wenige Minuten später dazu. Lebert, der aufgrund eines Spasmus linksseitig beeinträchtigt ist, hat sich selbst als „Krüppel“ bezeichnet. Das aus der Lähmung resultierende Humpeln scheint jedoch so zart und vorsichtig, dass es auch dem latenten Unwohlsein entspringen könnte, auf das der Autor Lebert schnell zu sprechen kommt.

Seine hauptsächliche Erwartung vom Schriftstellerdasein – dass es ein ruhiges Leben sei – habe sich nicht erfüllt. Wie eine Riesenwelle ist der Erfolg von „Crazy“ über ihn hereingebrochen. Lebert verließ das Münchener Elternhaus, Freunde und Bekannte lotsten ihn nach Berlin, wo er in Prenzlauer Berg in eine WG zog. Weit weg, „damit einem nicht doch die Wäsche gewaschen wird“. Zweieinhalb Jahre bleibt er dort, schreibt an seinem neuen Buch und für den Berliner Tagesspiegel, bis er feststellt, dass das Herz der Hauptstadt zu schnell für ihn schlägt. Auch wenn Leberts jüngstes Buch nicht autobiografisch ist, findet seine Berlin-Erfahrung literarischen Niederschlag. Die Stadt sei grau, sabbere die Menschen voll, die dann bescheuerte Dinge täten, heißt es im Roman, in dem sich zwei Zwanzigjährige auf einer Zugfahrt von München nach Berlin von ihrer Angst und Einsamkeit, kaputten Freundschaften und zerstörter Liebe berichten.

„Berlin kann ja nichts dafür“, sagt Lebert, „dass es mir dort nicht besonders gut ging. Es war zu gewaltig, zu anstrengend für mich. Irgendwann dachte ich, wenn man seinen Weg verliert, sollte man dorthin zurückgehen, wo man geboren ist.“ Es ist typisch für den Benjamin Lebert dieser Tage, dass er die Schuld für Niederlagen und seine Einsamkeit wortreich auf die eigenen Schultern lädt: „Ich glaube, dass alle Probleme, die man hat, von einem selbst ausgehen. Man kann das eigene Unwohlsein nicht anderen ankreiden.“

Der Autor spielt herab, hält die Fallhöhe niedrig. Einem Schweizer Magazin berichtete er, eine Psychotherapie begonnen zu haben. Dennoch fragt man sich, ob sein ständiges Nörgeln über sich, dieses Miesmachen des Egos nicht Kalkül ist. Wie auch seine düsteren, forschenden Blicke, die kein Lachen unterbricht. Ist sein Tiefstapeln Teil einer gewieften Medienpsychologie, dass momentan nur derjenige belobigt wird, der sich nicht selbst erhebt? „Ich fühle mich immer klein … ich kann nicht stolz auf mich sein … ich fühle mich als Mensch nicht anerkannt“ sind Sätze, die der Autor in jedem Interview hinlegt, als spräche er sie zum ersten Mal. Und doch: Wer ihm gegenübersitzt und den Satz „Meine größte und ständige Angst ist es, das Leben nicht zu bestehen“ hört, der ist getroffen und spürt, dass der Mensch, der ihn gerade sagte, ihn leider ernst meint.

Wenn Benjamin Lebert wild mit dem Arm wedelt, sich immer wieder an den Kopf greift, mit der Hand an die Stirn pocht, als ringe er mit jedem Satz so sehr, dass er sich die Worte dafür einzeln aus dem Kopf zieht, dann hofft man, dass er davon absieht, sich gleich zum Nichtsnutz zu erklären und mit Asche zu bestreuen. „Oft fühle ich mich mit anderen Menschen fremd und einsam“, verkündet er dann lediglich, und der Fragesteller atmet auf.

Immerhin lässt der allein lebende Autor im jüngsten Buch auch austeilen: Frauen seien „berechnende Bastarde, die genau wissen, was sie einem antun“, sagt eine der Hauptfiguren. „Natürlich habe ich Zorn auf Frauen“, gibt Lebert zu, „Frauen verkörpern all meine Sehnsüchte, Ängste und mein Verlangen, da kommt unweigerlich auch Hass auf“. Doch generiere sich seine Angst vor der Isolation nicht zuletzt aus dem eigenen zwischenmenschlichen Versagen. Daher tauche das Thema Einsamkeit im Roman und in seinen Kolumnen immer wieder auf.

Und tatsächlich: Diese Sehnsucht nach wahrhaftiger Anerkennung, nach Selbst- und Fremdliebe und einem intakten Sozialgefüge beschreibt Lebert so direkt, so aufrichtig und faszinierend schutzlos, dass man sich zuweilen bewegt auf die Unterlippe beißt. Besonders, wenn man wegen seines frühen Verkaufserfolgs nicht recht an Substanz bei ihm glauben wollte. Am wenigsten jedoch will Lebert selbst diesen Erfolg wahrhaben: „Ich empfinde mich nicht als erfolgreich. Ich kämpfe lediglich darum, alles einigermaßen gut hinzukriegen und dabei nicht unterzugehen.“

So leicht wie bei „Crazy“, das er an internatsfreien Wochenenden geschrieben hatte, fiel ihm das bei „Der Vogel ist ein Rabe“ nicht. Permanent wurde er freundlich oder feindlich nach dem zweiten Buch gefragt. Dabei braucht Lebert vor allem Stille, um schreiben zu können; wie Hemingway im Schützengraben zu schreiben liege ihm nicht. Anfangen konnte er daher erst, nachdem er beschlossen hatte, nicht für die „verschwitzten Gesichter auf der Buchmesse“ zu schreiben, sondern für sich selbst. Vielleicht hat es deshalb vier Jahre gedauert, bis Lebert eine Version erarbeitet hat, mit der er leben konnte.

Entsprechend ambivalent ist das Verhältnis zum Schreiben: „Ich hasse es. Diese wahnsinnig quälende und zermürbende Arbeit, ohne die ich nicht leben kann.“ Es ist wohl dieser Zwiespalt, der ihn unentwegt darüber nachdenken lässt, wer und was aus ihm werden könnte, wenn er nicht schriebe. Bislang erfolglos, denn eine Alternative scheint nicht in Sicht: „Ich habe keinen Plan B.“

Wer so viel über sich nachdenkt, der muss auch mit seinen dunklen Seiten vertraut sein. Lebert überlegt nicht lange, bis er antwortet: „Ich bin sehr ichbezogen.“ Sein Freund aus Berlin, der bis dahin interessiert zugehört hat, interveniert an dieser Stelle erstmalig: „Benjamins beste Eigenschaft ist seine Menschlichkeit.“

Dass das Leben nicht nur aus Internats- und Frauengeschichten besteht, weiß auch Lebert. Vor ein paar Monaten, sagt er und zeigt zufrieden auf die Straße vor dem Freiburger Stadttheater, habe er gegen den Irakkrieg demonstriert. Die Geschehnisse seit dem 11. September hätten politisierend auf ihn gewirkt. Er sagt: „Joschka Fischer ist mein Lieblingspolitiker, weil mir die politische Einstellung, die er vertrtitt, gefällt.“ Doch der grüne Realo ist nicht der Einzige, dem der Jungautor vertraut: Vor ein paar Tagen war der Katholik Lebert im Freiburger Münster, zur Abkühlung. Ein gutes Verhältnis habe er zu Gott: „Ich glaube, dass er uns hilft. Mir hat Gott in vielen Dingen geholfen.“

Wie bekommt man diesen Benjamin Lebert dazu, sich selbst oder seine Texte zu verteidigen? Die Frage, ob ihm sein Erstling „Crazy“ heute denn nicht unangenehm sei, bringt ihn tatsächlich in Rage: „Natürlich kann man sagen, es ist peinlich, was ein 15-Jähriger denkt oder wie er schreibt. Aber in ‚Crazy‘ stehen die besten Worte, die ich damals finden konnte, deshalb ist jeder Satz darin in Ordnung, auch wenn ich es heute so nicht mehr schreiben würde.“ Ähnlich gereizt reagiert der Jungautor auf die Frage, ob der kriminalistische Schluss seines aktuellen Romans nicht eine Pseudoklimax sei, ein unnötiger Tusch. „Nein, der Schluss muss so sein, wie er eben ist. Ich bin damit zufrieden, weil ich alles, was ich in Worte fassen konnte, in Worte gefasst habe.“ Basta.

Eine der erstaunlichsten Entscheidungen des jungen Autors war zweifellos seine Anmeldung an der Freiburger Volkshochschule im Februar. Trotz sattem Vorschuss für das neue Buch war er dort täglich mit anderen Schulabbrechern zu finden, um den Hauptschulabschluss nachzuholen. Für jemanden, der die Schule so sehr hasste, dass er die neunte Klasse abbrach und stattdessen über die roten Teppiche der Buchmessen und Filmpremieren marschierte, war das, wie er sagt, eine schwere Entscheidung, die dem Wunsch entsprang, seinem Leben eine Struktur abseits des vereinsamenden Schreibens zu geben: aufstehen, pünktlich sein, Schulpausen, Prüfungsstress.

Klein habe er sich da gefühlt. „Aber auch nicht kleiner als sonst. Ich fand, es gehörte zu meinem Leben dazu, mit Straßenpunks in einer Hauptschulklasse zu sitzen. Zu Hause habe ich den Schulranzen in die Ecke geworfen und irgendwann Hausaufgaben gemacht“, beschreibt Lebert die Zeit, in der er sich sechs Tage pro Woche von 9 bis 14 Uhr nicht als Schriftsteller, sondern als Hauptschüler wahrnahm. Immerhin ein Hauptschüler mit Dreizimmerwohnung in einem szenigen Stadtteil Freiburgs.

Am meisten habe ihn beeindruckt, dass viele seiner Mitschüler keine echte Chance gehabt hätten und trotzdem versuchten, Kontrolle über ihr Leben zu bekommen: „Die da saßen, haben sich von der Gemeinheit und Gewaltigkeit des Lebens nicht unterkriegen lassen, sondern gekämpft.“ Er selbst habe im Unterricht meist geschwiegen und seine Mitschüler beobachtet. Nur so könne er später das Erlebte schriftlich verarbeiten. Erkannt habe ihn kaum jemand. Zu beschäftigt waren die meisten mit dem eigenen schwierigen Dasein. Als ihn dann doch zwei, drei Mitschüler und ein paar Lehrer enttarnten, beachteten sie ihn angeblich nicht mehr und nicht weniger als vorher.

Auf seinen Notendurchschnitt von 1,3 ist Lebert endlich doch einmal stolz. „Das beste Zeugnis, das ich je hatte“, freut er sich. Wichtiger noch als der Abschluss sind ihm jedoch die daraus resultierenden Weiterbildungsmöglichkeiten. Denn mit seinem jetzigen Abschluss, so Lebert, könne er „höchstens Schreiner oder Straßenteerer“ werden – was sich aufgrund seiner Behinderung ja ausschließe.

Der Jahrgang über ihm musste in der diesjährigen Deutschprüfung zur Mittleren Reife übrigens „Crazy“ interpretieren. Lebert war erleichtert, dass sein Jahrgang verschont blieb: „Wahrscheinlich hätten sie mir eine Fünf gegeben.“ Wie es jetzt weitergehen wird? Benjamin Lebert weiß es nicht. Vielleicht irgendwann das Abitur nachholen und dann studieren. Frau und Kinder? Warum nicht, vielleicht in zehn Jahren. Obwohl: „Vielleicht hasse ich meine Frau in zehn Jahren bereits.“

Das Gespräch ist beendet, Lebert bricht auf. Gerne würde der Fragesteller ihm Aufmunterndes hinterherrufen: „Joschka Fischer hat Selbstzweifel und Skrupel doch auch irgendwann überwunden. Außerdem ist Freiburg herrlich. Und wenn alles schief läuft, wohnt nebenan Gott: Frankreich ist in Sichtweite.“ Hinter der Rheinbrücke, bei Colmar im Elsass, dann ein Anruf von Leberts Verlag: Ob Benjamin denn auch pünktlich und artig gewesen sei? Oui, Madame, sehr pünktlich, sehr artig.

ANDRÉ PARIS, 1969 geboren, lebt als freier Autor und Journalist meist in Berlin