Die Blumenkinder im Eis

Zurück zur Natur: In T. C. Boyles neuem Roman „Drop City“ zieht eine Hippie-Kommune von Kalifornien nach Alaska – und sieht sich dort mit dem täglichen Kampf ums Überleben konfrontiert

von ANDREAS HARTMANN

Freaks, Aussteiger und seltsame Typen sind schon immer die liebsten Figuren von T. C. Boyle gewesen. Richtig viel Vergnügen macht es Boyle, diese in seinen Romanen und Kurzgeschichten scheitern zu lassen – im Stich aber lässt er sie nie.

In seinem neuen Roman „Drop City“ gibt es gleich eine ganze Busladung an fusseligen Hippies, die das komplette Kommunenprogramm durchziehen – samt LSD im Orangensaft, Dauerfrust über die ewige Reispampe zum Abendessen, Kommunenkoller und Ähnlichem mehr.

Nur scheint Boyle dieses Mal nicht einfach nur Spaß an seinen Figuren haben und sie irgendwann abstürzen lassen zu wollen, er will mehr: „Drop City“ ist nicht einfach nur die Schilderung eines längst ausgefochtenen Kampfes für das etwas andere Leben, sondern die eines Kampfes ums Überleben.

So liest sich der Roman zuerst wie das Porträt einer Generation, mutiert dann aber zu einem waschechten Abenteuerroman über das Leben in der Wildnis, geschrieben im Geiste Jack Londons und mit zahlreichen Referenzen an H. D. Thoreaus Aussteiger- und Zurück-zur-Natur-Manifest „Walden“.

Boyle beschreibt das Scheitern der Hippie-Generation, die zu Beginn der Siebzigerjahre gegen ihr eigenes Verschwinden ankämpfen muss. Drastisch schildert er, wie die LSD-Freaks und Blumenkinder entweder von den Verhältnissen aufgerieben werden oder sich eben an diese anpassen. Kein Wunder, dass seine „Drop City“-Kommune aus zunehmender Angst vor den Repressionen der Spießerwelt irgendwann mit Sack und Pack von Kalifornien nach Alaska zieht und freiwillig die andauernde Sonne gegen das ewige Eis eintauscht.

In dieser Einöde gilt mehr als sonst auf der Welt: Pass dich an! Oder geh unter! Mitten in der Wildnis treffen die für das wirkliche Leben in der freien Natur extrem ungeeigneten Hippies auf den Autarkisten Sess, der sich hier schon länger in der extremen Form des Aussteigens übt. Bald bleibt den Hippies gar nichts anderes mehr übrig, als auch so klasse Holzhüttenpaläste zu bauen wie Sess, Fallen zu stellen wie die ersten Trapper und Lachse zu fangen wie junge Braunbären. Der Einzelgängertyp wird plötzlich zum Ideal, der Kommunengedanke zunehmend zu Humbug. Das Handeln der Hippies ist fortan nicht mehr selbstbestimmt, sondern deterministisch, abhängig von Wetter und Nahrungslage. So bricht das ganze hippieeske, vom freien Willen getragene Utopiemodell endgültig zusammen.

T. C. Boyle lässt den Exodus seiner Kommune ganz bewusst im Jahr 1970 stattfinden – ein Jahr nachdem mit den Morden der Manson-Family die Flower-Power-Ära der Hippies zu Ende gegangen war. Der Hippietraum ist ausgeträumt, vor dem endgültigen Aufwachen sträuben sich die letzten der Blumenkinder dennoch.

Boyles „Drop City“- Kommunarden begeben sich freiwillig in ihr Reservat, vorerst in der Hoffnung, hier in Ruhe sozusagen ihre Rente genießen zu können.

Nicht gerechnet hatten sie allerdings damit, dass ausgerechnet einer wie Sess zu ihrem Aussteigervorbild wird: ein unsinnlicher und pragmatischer Einzelgänger, der sich wie Isak in Knut Hamsuns „Segen der Erde“ irgendwann mit Pamela eine Frau besorgt, die ihm vor allem die Einsamkeit erträglicher machen und tagsüber die Hütte heizen soll. Doch in Alaska zählt eben nicht mehr der Besitz aller Platten von Jimi Hendrix oder der „Easy Rider“-Kinobesuch. Hier muss man wissen, wie man am besten Holz trocknet oder einen Hirsch erlegt.

Boyle formuliert es nicht aus, aber man ahnt es: Für die „Drop City“-Freaks ist die Flucht nach Alaska von vornherein der Gang in eine Sackgasse. Ihr Zurück-zur-Natur-Ideal wird zu ihrem Untergang. Wer den ganzen Tag durch den Schnee stapfen muss, hat abends keine Lust mehr,auf Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll. Letztlich domestiziert also die Natur die Hippies und nicht umgekehrt. Nur wer jetzt noch den Kontakt mit der verhassten Zivilisation aufrechtzuerhalten vermag wie der Flieger Joe Bosky, erhält sich etwas von der Durchgeknalltheit, durch die sich die Hippies einmal ausgezeichnet hatten. Doch am Ende wird auch er verschluckt von der unendlichen Weite der Natur. Er erfriert, während seine Kommunarden beginnen, ihr neues Leben zu meistern. Der Tod kommt eben manchmal auch zweimal.

T. C. Boyle: „Drop City“. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter, Hanser Verlag, 528 Seiten, 24,90 €