„Dem Denken der RAF nicht fern“

Interview STEFAN REINECKE

taz: Herr Hachmeister, Hanns-Eberhard Schleyer, eine der Hauptfiguren in Ihrem Film, hat gesagt, dass in „Schleyer“ eine falsche Nähe seines Vaters zu Naziverbrechern nahe gelegt wird. Das sei ein Ergebnis von Stasi-Machenschaften. Stimmt das?

Lutz Hachmeister: Nein. Hanns Martin Schleyer war Nationalsozialist. Er selbst hat das nach 1945 gar nicht bestritten und versucht, sein Engagement für den NS-Staat zu erklären: mit den Folgen des Versailler Vertrags, mit der Depression am Ende der Weimarer Republik, dem Ende des Klassenkampfs auf den Straßen nach 1933. Der Film legt gar nichts nahe, er hält sich an die Fakten.

Der Film zeichnet ein scharfes Bild von Schleyer als Nazi-Studentenführer. Undeutlicher ist seine Rolle später beim Centralverband der Industrie im annektierten Prag. Man erfährt, welche Funktion Schleyer hatte, aber nicht, was er genau getan hat, etwa ob er an der Rekrutierung von Zwangsarbeitern beteiligt war. Warum nicht?

Weil man das nicht nachweisen kann. Ich habe bewusst alle Gerüchte über Schleyer in Prag, die lange Jahre in der linken Szene herumwanderten, außen vor gelassen. Schleyer war Bürochef des sehr einflussreichen Wirtschaftsführers Bernhard Adolf. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass er an wesentlichen Entscheidungen beteiligt war. Seine Tätigkeit war vermittelnd, hintergründig – und ist nicht einfach zu beschreiben. Hinzu kommt, dass viele Akten im April 1945 vernichtet worden sind. Selbst der tschechische Geheimdienst, der in den 60er-Jahren recherchierte, hat über Schleyer recht wenig gefunden.

Ist es denn wahrscheinlich, dass Schleyer an der Verschleppung von Zwangsarbeitern aktiv beteiligt war?

Nein. Der Centralverband der Industrie für Böhmen und Mähren hatte eher zwischen NS-Stellen und der Wirtschaft im Protektorat zu vermitteln. Die Rolle des Centralverbandes betreffs der Zwangsarbeiter ist durch die bisher recherchierten Akten schlecht zu definieren. Es gibt aber noch unerforschte Archive tschechischer Firmen.

Undeutlich bleibt in dem Film auch die Rolle der Stasi. Hat sie an Bernt Engelmanns Enthüllungen über Schleyers Nazizeit „mitgeschrieben“?

Es gibt einen sehr deutlichen Hinweis auf ein manipuliertes Dokument in Bernt Engelmanns Tatsachenroman „Großes Bundesverdienstkreuz“, allerdings in einer Auflage nach 1977. Darin konstruiert Engelmann den Fall, dass Schleyer der letzte „Kampfkommandant von Prag“ war und persönlich an Geiselerschießungen beteiligt gewesen sei. Das ist mehr als unwahrscheinlich.

Warum?

Es gibt dafür nicht eine seriöse Quelle. Um Schleyers zentrale Rolle im April 1945 nachzuweisen, suggeriert Engelmann, Schleyer habe eine Anordnung zur Räumung Böhmens und Mährens erteilt. Doch Schleyer hat solch eine Anordnung nur weitergeleitet. Es sind zwei Briefe zusammenmontiert worden.

Das ist eine Stasi-Fälschung?

Alles weist darauf hin. Engelmann hat viele Dokumente aus der DDR benutzt. Die meisten waren allerdings echt.

Verstehen Sie, warum Hanns-Eberhard Schleyer nun genau diesen Eindruck zu erwecken versucht: Papa war kein Nazi, alles Stasi-Lüge?

Natürlich verstehe ich ihn. Sein Vater ist von politischen Fanatikern ermordet worden. Und er ist der älteste Sohn, der Stammhalter, er will ein möglichst ungebrochenes Bild seines Vaters tradieren. Er leugnet ja auch nicht, dass sein Vater NSDAP-Mitglied war. Sein Argument lautet in etwa: „Mein Vater ist der NS-Ideologie auf den Leim gegangen, aber nach 1945 hat er sich für die Demokratie engagiert. Wir können dieser Generation nicht ständig ihre Jugendfehler vorwerfen.“ Mein Film klagt aber niemanden an, er rekonstruiert eine Biografie im zeithistorischen Panorama.

1945 scheint Schleyer einfach einen Schalter umzulegen: Er, der überzeugte Nazi, ist nun ein überzeugter konservativer Demokrat. Er hat keine moralische Krise, er macht weiter. Verstehen Sie dieses Verhalten – das ja typisch für eine ganze Generation ist?

Ja. Er kann die Managerfähigkeiten, die er in der NS-Zeit gelernt hat, weiter anwenden. Er bewegt sich in den gleichen Netzwerken, hat die gleichen Freunde. Die Unternehmen bestehen bruchlos weiter, die alten Kameradschaften auch. Außerdem hat sich Schleyer, wie alle intelligenten NS-Leute, spätestens Ende 1943 Gedanken gemacht, wie es nach einer möglichen Niederlage weitergeht. Zudem war er nach 1945 drei Jahre interniert – eine lange Zeit, um sich über seine Rolle in der Republik klar zu werden.

In dem Film gibt es einen Ausschnitt aus einer Talkshow von 1978: Daniel Cohn-Bendit behauptet dort, dass Schleyer jeden Tag mit dem berüchtigten SS-Führer Heydrich im Auto gefahren ist und nur durch Zufall dem Attentat auf Heydrich entging. Schleyers Witwe bestreitet dies. Warum klären Sie diese Frage nicht auf?

Weil jeder halbwegs aufgeweckte Zuschauer nachvollziehen kann, dass Schleyer als Sekretär eines Verbandschefs nicht jeden Tag mit dem mächtigsten Mann im Protektorat im offenen Mercedes fährt. Das sagt Waltrude Schleyer in dem Film, und in dem TV-Ausschnitt schüttelt Rudi Dutschke neben Cohn-Bendit den Kopf. Der Auschnitt ist ein Beleg, welche Wandersagen in der Linken dominierten.

Haben Sie den Söhnen gesagt, dass auch Leute aus dem RAF-Kommando, das ihren Vater erschossen hat, in dem Film zu Wort kommen?

Ja.

Und umgekehrt? Haben Sie dem Ex-RAF-Terroristen Stefan Wisniewski gesagt, dass die Söhne in dem Film eine sehr starke Rolle spielen?

Ja. Er hatte damit einige Probleme.

Wisniewski erscheint als ungeheuer verhärtet: Er scheint die Ermordung von Schleyer noch immer zu rechtfertigen. Weiß er eigentlich, wie so etwas auf dem TV-Schirm wirkt?

Ja. Ich habe ihm gesagt, dass diese Sätze wie eine Rechtfertigung wirken. Aber er wollte sich genau so äußern.

Es gibt eine spannende, untergründige Parallele: So starr wie Wisniewski über 1977 redet, so sentimental spricht Friedrich Kuhn-Weiss, ein Mitarbeiter von Schleyer in Prag, über die NS-Zeit. Der Holocaust, das waren bei ihm die „Umstände“, die Schleyer eine arisierte Villa bescherten. Bei beiden, Wisniewski und Kuhn-Weiss, gibt es eine ähnliche Unfähigkeit zur Reflexion.

Das stimmt. Es existieren auch Ähnlichkeiten zwischen der Militanz der 30er- und der 70er-Jahre. Ich meine das nicht im Sinne einer naiven Totalitarismustheorie oder einer Gleichsetzung. Aber es gibt Schnittmengen im völkisch-sozialistischen Denken. Auch Schleyer, der ja vor und nach 1945 stets in Begriffen von Betriebs- und Volksgemeinschaft gedacht hat, war in manchen Punkten dem Denken der linken Militanz nicht vollkommen fern. In den 30er-Jahren hat er sich sehr für die Idee einer „sozialistischen Hochschule“ eingesetzt, in der die üblichen Privilegien abgeschafft werden und Studenten zum Arbeitseinsatz in die Betriebe oder aufs Land geschickt werden sollten. In bestimmten antiindividualistischen, antiintellektuellen Affekten gibt es durchaus Berührungen. Da steht eine genaue Analyse aber noch aus.

Dieser Aspekt wird wenig wahrgenommen?

Ja. In Deutschland tut man sich immer noch schwer damit, das Schillernde, Irritierende, Widersprüchliche solcher Biografien zu akzeptieren. Man hätte es gern etwas geradliniger – also: Schleyer als Opfer, oder Schleyer als Täter. Ich fände es interessant, anhand dieser Biografie über die Geschichte der Militanz nachzudenken, angefangen von den Freicorps über die SS-Intelligenz bis zum Terrorismus der 70er-Jahre. Material dazu ist in dem Film ja versammelt. Aber das spielt bislang in der Rezeption des Films keine Rolle.

Die RAF ist derzeit wieder ein Thema. Wieso springen bei der RAF, die sich 1998 aufgelöst hat, noch immer alle Alarmsirenen an?

So irrsinnig und irrlichternd die Aktionen der RAF waren – es war der einzige existenzielle, gewaltsame Widerstand gegen die bürgerliche Republik. Darum wirkt die RAF auf viele immer noch faszinierend. Man darf nicht vergessen, dass die RAF-Gründer medienbewusst waren: Holger Meins war Filmstudent, Ulrike Meinhof Journalistin. Das RAF-Logo hatte Arte-povera-Qualität. Die RAF war vielleicht die erste militante Gruppe, die sich über ihre mediale Wirkung sehr bewusst war.

Ist es nicht trotzdem Zeit für eine Historisierung? Woher kommt das Bedürfnis, immer wieder die gleichen Schlachtordnungen herzustellen, wie die Debatte der RAF-Ausstellung gezeigt hat?

Ich glaube, die Historisierung wird es so oder so geben. An der Ausstellung ist etwas anderes interessant. Es gibt, sieht man von ein paar CDU-Hardlinern ab, eine große Koalition für diese Ausstellung, die von dem Ex-BKA-Chef Zachert über Ströbele bis zu den üblichen RAF-Experten der Republik reicht. Das ist doch erstaunlich. Die RAF wird fünf Jahre nach ihrer Auflösung musealisiert. Das verdeutlicht, wie unpolitisch die RAF eigentlich war. Und die Ausstellung symbolisiert die quasi staatliche Eingemeindung der RAF.

Steile These.

Nein, gar nicht. Die Ausstellung wird es geben, sie wird ein großes Spektakel.