„Gar nichts war kalkuliert“

Erst Rockdichter, dann das Arschloch der Achtzigerjahre, inzwischen als Lyriker anerkannt:Ein Gespräch mit Wolf Wondratschek über frühe Gedichte und die Genauigkeit in der Poesie

von FRANK SCHÄFER

taz: Als Gottfried Benn für das Arrangement seiner ersten Werkausgabe noch einmal sein Frühwerk durchblätterte, soll er die harten, kruden, expressionistischen „Morgue“-Gedichte nicht mehr verstanden haben. Geht es Ihnen auch so, wenn Sie jetzt ihre gesammelten „Gedichte/Lieder aus Zweitausendeins Jahren“ wieder lesen?

Wolf Wondratschek: Nein, das ist ganz wunderbar, das ist frisches Zeug. Als ich sie jetzt wieder las, fand ich sie so wenig alt wie einen Song von Dylan. Ich lese daraus auch jetzt wieder manchmal. Das ist nicht abgestanden, hat einen schönen Ton, ist unprätentiös. Das war ja kein Beitrag zur deutschen Lyrikgeschichte!

Was die Gedichte dann allerdings doch geworden sind.

Ja, aber das ist von selbst passiert. Und weil es von selbst passiert ist, ist es jetzt so. Die Geschichte begann ja mit tausend Exemplaren, die ich selber habe drucken lassen. Mit ein paar Gedichten für Freunde, die Titel trugen wie „Chuck’s Zimmer“. Ich wachte erst aus diesem schönen Traum auf, als die angeliefert wurden: tausend Stück! Ich kann vielleicht fünfzig oder hundert verschenken, aber was mache ich denn mit dem Rest? Den habe ich dann dem Lutz Kroth von Zweitausendeins angeboten, der sagte: Um Gottes willen, muss das sein, was soll ich denn mit dem Zeug? Und ich sage, nimm die, biete die über deine „Merkhefte“ an. Er sagt, gut, das mache ich, aber wenn es nicht geht, schicke ich sie dir wieder zurück. Gib mir ein halbes Jahr Zeit, damit da überhaupt etwas passiert. Einen Monat später rief er mich an und sagte: Ich weiß auch nicht, die sind weg! Wunderbar. Da würde ich vorschlagen, sagt er, drucken wir nochmal tausend. Prima. Unser Deal war ja auch wunderschön, fifty-fifty.

Bis heute?

Ja, fifty-fifty, bis heute. Der Rest ist Geschichte. Heute findet man vorn drin in den Büchern ja nur eine kryptische Zahlenkombination, die keiner versteht. Bei uns standen die einzelnen Auflagen noch untereinander: 1. Auflage Mai 1974, 2. Auflage Mai 1974. Das war so eine Latte, 29. Auflage, das macht Eindruck auf mich!

An die 200.000 Exemplare sind von diesen vier Gedichtbänden – „Chuck’s Zimmer“, „Das leise Lachen am Ohr eines andern“, „Männer und Frauen“ und „Letzte Gedichte“ – wohl verkauft worden. Und das, obwohl sie bei der Literaturkritik eher unbeachtet blieben.

Das lag schlicht daran, dass Zweitausendeins keine Rezensionsexemplare verschickt hat. Wenn man die Damen und Herren vom Kulturbetrieb nicht hofiert, dann nehmen die doch nichts wahr.

Warum mussten die Bücher überhaupt im Selbstverlag erscheinen? Immerhin waren Sie Anfang der Siebziger bereits ein durchaus angesehener Autor, der beim Hanser Verlag zwei avancierte, auch vom Großfeuilleton gut besprochene Kurzprosabände publiziert hatte. Warum also nicht beim Hausverlag? Für den Nachgeborenen sieht das aus wie eine kalkulierte Entscheidung. Eine Lyrik, die Gegenkultur thematisiert und repräsentiert, die etwa mit Referenzen an Rockmusik spielt, passt einfach besser zum Versand Zweitausendeins, der bald zu einem der Impulsgeber der Alternativkultur werden sollte. War das Kalkül?

Kein Verleger ist erfreut, wenn sein Autor mit Gedichten ankommt. Weder in den Siebzigerjahren noch heute. Man möchte erst einmal einen Roman. Ich habe aber keinen Roman geschrieben, ich schrieb Gedichte. Es war einfach meine Art zu leben, mich zu äußern. In meiner Wohnung ging man ein und aus.

So wie in „Chuck’s Zimmer“?

Ja, genau, da stimmt alles, alles, was da kreucht und fleucht. In der Ecke lag ein Schauspieler, ich will den Namen nicht nennen, auf Heroinentzug, dann tauchte der Ghetty auf mit dem abgeschnittenen Ohr, plötzlich war Heroin in der Wohnung. Also, ich habe da gelebt, und wenn ein Mädchen gesagt hat: „Ich spüre gar nichts mehr, ich sollte mich mal von einem Auto überfahren lassen“, dann kommt das in einem Gedicht vor. Die Gedichte sind ja alle angekifft in der Nacht entstanden. Das ganze Jahrzehnt war angekifft. Da stellte man doch nicht die Frage, welchem Verlag man das wohl gibt. Ich lebte in einem Ambiente, das konnte ein Verleger gar nicht nachvollziehen.

Obwohl Allen Ginsberg ebenfalls in Ihrem Verlag erschien?

Es ist ein Unterschied, zu lesen, wie kalt es auf einem russischen Bahnhof ist, oder sich morgens um drei den Arsch dort abzufrieren. Das wissen die Kulturaristokraten eben nicht. Diese Erfahrung machen die nicht. Ich habe mich immer gewundert, mit welcher Eloquenz sie reden über die Lautréamonts, Rimbauds und so weiter. Das sind Galaxien, in die sie nie einen Schritt machen. Mein Verleger wusste, dass Ginsberg im Olymp angekommen ist, und er hatte ja in den Sechzigerjahren eine ganze Menge an Publicity, nur wenn dann der Fall X kommt, und ein Autor wie ich käme mit poetischen Notaten aus „Chuck’s Zimmer“, wie es da irgendwo in einer Wohnung in München eben zugeht, das ist dann wieder ein anderer Fall. Dem bin ich gleich ausgewichen und habe gesagt, ich mach’s lieber selber. Also: Gar nichts war kalkuliert.

Rolf Dieter Brinkmann, Sie und noch ein paar andere haben einen neuen Ton in die Literatur eingeführt, jedenfalls in Deutschland, einen urbanen Stil, der keinen Unterschied macht zwischen Hoch- und Populärkultur und der, gerade indem er potenziell alles als poetisches Spielmaterial benutzt, viel besser geeignet ist, den Geist einer Zeit einzufangen.

Darum ging es gar nicht. Ich habe mich ja nicht hingesetzt in den Siebzigerjahren, um ein Bild meiner Generation zu schreiben. Dass es heute als ein solches dasteht, ist schön, aber wenn ich das gewollt hätte, wäre es das nicht geworden.

Dann hat Sie Brinkmann nicht beeinflusst?

Ich war völlig unbekannt, da war der Brinkmann ein Star. Und was für einer! Der kam mit seiner Factory auf die Buchmesse, ich lebte damals in Frankfurt und war quasi mittendrin, musste ja nicht zur Buchmesse reisen. Der kam da an mit seiner Gang und die gingen da durch wie die Cowboys. Mir hat das gefallen. Mehr nicht. Die waren böse, die waren radikal, und sie haben Gedichte geschrieben. Wenn man heute böse und radikal ist, dann macht man was anderes. Ich war genauso fasziniert. Wenn man aber bei mir überhaupt von einem Einfluss sprechen kann, dann habe ich eher so eine Figur wie H. C. Artmann bewundert. Ein Mann, der sich erschafft im Gedicht. Realismus hat ihn überhaupt nicht interessiert. Den H. C. Artmann hat Sprache interessiert, aus der Sprache macht er einen Zauber. Seit ein paar Jahren versuche ich das in der Prosa zu erreichen.

Aber Sie konnten doch nur deshalb auf Augenhöhe mit Ihrer Zeit sein, weil Sie keine Berührungsängste vor der populären Kultur kannten, weil Sie die als poetisches Substrat durchaus ernst nahmen.

Es gibt nur eins: Genauigkeit. Alles hat unter der Maßgabe von Genauigkeit Eingang in die Poesie. Ezra Pound hat schon Anfang des Jahrhunderts gesagt, es müsse Dreck in die Poesie gegen die Ausdünnung, gegen die Ästhetisierung, das hat etwas mit Genauigkeit zu tun. Der Rilke schreibt einmal in einer Reisebeschreibung: „Uns ging die Pneumatik aus.“ Er meinte, wir hatten einen Platten. Nun, wir haben uns damals entschieden zu sagen: Wir haben einen Platten. Mir ist es damals wie heute immer nur um die Poesie gegangen.

Ihre Gedichte der Achtziger- und Neunzigerjahre, auch Ihr Roman „Einer von der Straße“, hatten eine sehr schlechte Presse. „Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre“ antizipiert ja gleichsam den Verriss. War das so beabsichtigt?

Nein, nein. Der Untertitel ist ja erst mal eine Verszeile aus dem Buch. Gegen die aufgesetzte Coolness der Achtziger gerichtet: Ich war nicht cool, ich war hot. Aber, ich weiß auch nicht, das ist ganz offensichtlich das Selbstzerstörerische in mir, das sich immer wieder, ganz unbewusst, zu Wort meldet. Nein, ich hätte gern einen Lektor gehabt, der mich auf diesen Fehler hinweist, und ich glaube, ich wäre dieser Kritik auch aufgeschlossen gewesen. Aber die bei Diogenes mochten den Untertitel auch.

Die neuen Prosabücher sind dann wieder ganz wohlwollend aufgenommen worden.

Aber die schlechten Kritiken hören ja nicht auf. Neulich erst in der Süddeutschen wurde „Mozarts Friseur“ verrissen. Der Rezensent hat gar nicht verstanden, worum es geht in dem Buch.

Stört Sie das noch?

Ja. Mich stört, was bei solchen Kritiken zurückbleibt. Dass sie sich vor das Buch stellen und eine adäquate Rezeption verhindern.

Ihre letzten drei Bücher sind wieder bei Hanser erschienen, Ihrem ersten Verlag. Schließt sich der Kreis?

Ich habe meinen alten Lektor Michael Krüger zufällig getroffen, der ist dort ja jetzt Verlagschef. Er hat gefragt, ob ich was in der Schublade hätte. Eigentlich wollte ich gar nicht mehr publizieren. Mir schwebte so ein Mäzenatentum vor. Man finanziert mir das Schreiben und ich veröffentliche das nicht, sondern gebe es gleich nach Marbach ins Literaturarchiv. Deshalb ist „Die große Beleidigung“ dann ja auch in der Edition Akzente erschienen. Ich wollte das möglichst unauffällig, unspektakulär. Ich wollte auch kein buntes Cover mehr.