Diplomatie statt militärischer Vergeltung

Israel will trotz Anschlägen an Waffenruhe festhalten, droht aber mit einer Verzögerung des Zeitplans der „Roadmap“

JERUSALEM taz ■ Der wegen der Selbstmordanschläge von Dienstag aus dem Urlaub zurückgeeilte israelische Verteidigungsminister Schaul Mofaz hat gestern die Leiter des Sicherheitsapparats zu einer Besprechung einberufen. Regierungsquellen betonten, Israel beabsichtige nicht, die Waffenruhe einseitig zu widerrufen. Israel plant offenbar keine militärische Vergeltung für die Anschläge, beabsichtigt aber, den diplomatischen Druck auf die Palästinenserbehörde mit US-Hilfe zu verstärken und den Dialog aufrechtzuerhalten.

Solange die Palästinenser keine Ansätze zur Zerstörung der Terror-Infrastruktur demonstrierten, werde es keinen Übergang von der Hudna (arabisch: Waffenruhe) zur nächsten Etappe der „Roadmap“ geben, versicherte Premier Ariel Scharon in einem Gespräch mit Vize-US-Außenminister William Burns. In der „Roadmap“ wurde für Ende 2003 ein palästinensischer Staat in provisorischen Grenzen in Aussicht gestellt. Ein Abkommen über permanente Grenzen ist für Ende 2005 vorgesehen.

Scharon legte Burns ein Geheimdienstdokument vor, nach dem es in sechs Wochen Waffenruhe 209 palästinensische Angriffe gegeben habe, davon 132 Schüsse auf Fahrzeuge und Personen. 40 geplante Attacken hätten verhindert, 80 Palästinenser eingesperrt werden können. Während einzelne Terrorzellen im Westjordanland wucherten, würden im Gaza-Streifen Kassam-Raketen produziert und auf jüdische Siedlungen abgefeuert. Nach dem Dokument war die Zahl der geplanten und durchgeführten Attacken während der Hudna größer als im Juni, allerdings bei wesentlich weniger Toten (5) und Verletzten (27).

Bei einer Knesseth-Sondersitzung warf der Arbeitspartei-Abgeordnete Ofir Pines der Regierung gestern vor, ihre Verpflichtungen nicht zu erfüllen: Häftlingsfreilassungen wurden ausgesetzt, die demütigende Behandlungen von Palästinensern an Straßensperren hält an, der Rückzug aus Städten im Westjordanland ist gestoppt.

Israels totale Sicherheitskontrolle steht im Widerspruch zu der Forderung an die hilflose Behörde, den Terror mutig zu bekämpfen. Die relativ niedrige Opferzahl bei den Selbstmordattacken erleichtert den Entschluss zu militärischer Zurückhaltung. Man kommt damit auch dem Wunsch der Bevölkerung entgegen, die mehr nach Ruhe als nach Rache lechzt. Im Urlaubsmonat August bevölkern mehr als eine Million Kinder Straßen, Sommerlager, Schwimmbäder und Strände.

Die hohe Alarmstufe nach den Anschlägen von Dienstag und 20 Terrorwarnungen sorgten gestern für ungewöhnlich hohe Polizeipräsenz und Unruhe in der Bevölkerung. In der Nacht zu Mittwoch wurde ein Siedlerbus bei der Stadt Ramallah im Westjordanland beschossen. In derselben Nacht verhaftete die Armee bei Nablus und Jenin sieben gesuchte Hamas- und Tansim-Mitglieder. Das Haus der Familie des Selbstmordbombers von Rosch Haain, eines 17-jährigen Mitglieds der al-Aksa-Brigaden aus dem Lager Askar bei Nablus, wurde zerstört. ANNE PONGER