Mit Mohrrüben gegen die Nation

Die Mohrenstraße in Mitte hat einen neuen Namen – zumindest vorübergehend. Grund dafür ist nicht eine der Initiativen zur Umbenennung, die immer mal wieder gestartet wurden. Sondern ein Protest gegen die Nation und ihre Praxis des Gedenkens

VON SVENJA BERGT

Der Staat ist schuld. Und natürlich Alice im Wunderland. Aber auch die Hochkulturen der Antike, schließlich waren sie die Ersten, die nachgewiesenermaßen Kolonien schafften. Hätte es sie alle nicht gegeben, würden Kolja und seine Kollegen von der Berliner Naturfreundejugend heute nicht in der Winterkälte auf dem Bahnsteig des U-Bahnhof Mohrenstraße stehen und mit zehn Bund Möhren und einer Leiter auf einen knallpinken Hasen warten.

Der U-Bahnhof Mohrenstraße ist einer von denen, die sich nie wieder richtig von ihrem Schicksal als Endstation erholt haben. Zu Kaisers Zeiten hieß die Station Kaiserhof, bis zur Wende Otto-Grotewohl-Straße und war die letzte Station vor der Mauer. Heute liegt sie zentral und gleichzeitig am Rand: Stadtmitte, Potsdamer Platz, Unter den Linden – alle Stationen in der Umgebung sind interessanter für Touristen, Umsteiger, Aussteiger.

Doch die kleine Gruppe will nicht um- oder aussteigen. Sondern samt Hasen die am U-Bahnhof liegende Mohrenstraße, die einige – politisch korrekt – nur „M-Straße“ nennen, bis zum anderen Ende hinauf laufen, dabei die Passanten mit Flugblättern und Mohrrüben versorgen und sämtliche Os auf den Straßenschildern mit kleinen Ö-Pünktchen überkleben. „Symbolisch“, soll das Ganze sein“, erklärt Aktivist Kolja, eine Aktion, um auf die koloniale Vergangenheit, wie die Verbrechen der Deutschen an den Herero, aufmerksam zu machen. Und gleichzeitig ein Zeichen zu setzen gegen alle, die den Staat feiern dabei und die dunklen Stellen in der Geschichte vergessen.

Jubel und Möhren

Der Hase ist da. Sehr pink, mit weißen Backen, kleinen Hasenzähnen und langen Ohren, die das Kostüm optisch noch größer machen, steigt er aus der U-Bahn. Unter dem Jubel der rund ein Dutzend Anwesenden zückt er einen schwarzen Edding und malt dem O auf dem Stationsschild sorgfältig zwei kleine schwarze Striche auf den Kopf. Lauter Jubel, erste „Freiheit für den Hasen“-Rufe. Die Fahrgäste schauen erstaunt, einige zücken ihr Handy und machen Fotos. Ein BVG-Mitarbeiter spricht schnell in ein Funkgerät und verdrückt sich dann an das andere Ende der Station.

Der Hase – inspiriert von dem verrückten Kaninchen aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ – ist der Star der kleinen Gruppe. Er stellt sich in Pose, wirft Kusshände in die nur andeutungsweise vorhandene Menge, winkt und mimt Dankesgesten, als der Jubel abflaut. Während er Straßenschild für Straßenschild auf die Leiter klettert und das O zum Ö macht, verteilen die restlichen Aktivisten Flyer. „Möhren(-straße) statt Märchenland“ steht da und, weiter unten: „Nationen sind nichts Naturgegebenes, sondern müssen in den Köpfen der Menschen erzeugt werden.“

Den ersten Satz verstehen die meisten Passanten noch: „Da habe ich nichts gegen“, sagt eine Frau, zwar nicht Anwohnerin, aber beruflich in der Straße tätig, zur Idee der Umbenennung. Und fragt dann: „Und was hat das mit Nation zu tun?“ Sie ist nicht die Einzige, die die Aktion erst nicht oder missversteht oder mit einer Werbeaktion verwechselt. Eine Reaktion, die für die Aktivisten normal ist. „Wir können hier einfach nicht mit konventionellen Protestformen kommen – zumal die keiner von uns mehr sehen kann“, sagt Kolja. Eine andere Aktivistin ergänzt: „Wenn man den Leuten sagt, dass man gegen den Staat ist, fragen die gleich: Bist du verrückt?“ Der Hase führe aber dazu, dass sich die Angesprochenen erst einmal öffneten – und Flyer und Möhren in Empfang nähmen. Außerdem nehme die Figur solchen Fragen den Wind aus den Segeln: „Da sieht man doch gleich, ja, der ist verrückt.“

Auf dem roten Teppich

Der verrückte Hase sorgte in diesem Jahr schon einmal für Verwirrung: Im Januar, zur Premierenfeier des Hollywood-Films „Operation Walküre“ mit Tom Cruise, stapfte der Hase winkend über den roten Teppich. Damals mit schwarzer Augenklappe. Die Security brauchte ganze 20 Sekunden, um zu realisieren, dass es sich bei der Figur nicht um einen Star, sondern einen Störer handelte – und ihn unwirsch vom roten Teppich zu entfernen.

In diesem Jahr stehen eine Reihe solcher Aktionen an, sagt Kolja. Die Feierlichkeiten zum Grundgesetz im Mai etwa, die zum 9. November und zur Varusschlacht. „Es wird sich an das erinnert, was gerade passt“, kritisiert er solche Gedenkveranstaltungen. Beim 9. November zwar an den Mauerfall, aber nicht an die Reichspogromnacht; an die Varusschlacht, aber nicht an die koloniale Vergangenheit Deutschlands.

An der Mohrenstraße Ecke Charlottenstraße kommt die Polizei. Ein Motorrad mit Blaulicht hält vor der Mittelinsel, auf der die Aktivisten gerade stehen, dahinter ein Streifenwagen, ebenfalls mit Blaulicht. Die kleine Gruppe erstarrt kurz. Dann eine schnarrige Durchsage aus dem Streifenwagen, dass hier eine Kolonne im Anmarsch sei, die Vorrang habe. Keine Hasen-Festnahme heute. Nur die Mohrrüben werden langsam knapp.

Dann, endlich, eine Anwohnerin. „Sie sind ja nicht die Ersten“, sagt die ältere Dame, nachdem sie eine der Möhren und einen der Flyer in Empfang genommen hat. Damit hat sie Recht. Die Mohrenstraße samt U-Bahnhof wurde schon öfter zwangsumbenannt. Zu Ostern 2003 malten „autonome Häschen im Auftrag des Berliner Gemüsehandels“ Ö-Punkte, wie ein Bekennerschreiben verriet. Ein Jahr später gingen Unbekannte einen Schritt weiter: Sie überklebten die Straßen- und U-Bahn-Schilder gleich mit einem ganz neuen Namensvorschlag: May Ayim, einer Aktivistin der afrodeutschen Bewegung.

Überhaupt wurde eine Umbenennung zwar oft angestoßen, aber nie umgesetzt. „Es ist auch eine grundsätzliche Frage, ob man in einer historischen Landschaft auch die Verletzungen drin lässt“, sagt Wolfgang Kaschuba, Leiter des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität, das selbst in der Mohrenstraße sitzt. „Ich tendiere dazu, auch die Verletzungen drin zu lassen.“ Schließlich resultiere der Straßenname aus dem 17. Jahrhundert und damit aus einer Zeit, in der der Begriff „Mohr“ nicht negativ gemeint war. Viel wichtiger sei eine permanente öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Kritik gibt es von Kaschuba allerdings an dem Namen der U-Bahnstation, die erst seit 1991 nach der Straße heißt. „Da hätte man mehr Feinfühligkeit an den Tag legen können“, findet der Ethnologie-Professor.

Eine gute Stunde später. Die Mittagszeit ist langsam vorbei, auf der Straße ändert sich das Verhältnis von Berufstätigen zu Touristen zugunsten der Berlin-Besucher. Die Aktivisten müssen zunehmend auf Fremdsprachen zurückgreifen, um wenigstens zwei erklärende Sätze zu sagen. Die Möhren sind fast alle, die Flyer-Stapel deutlich kleiner geworden. „Zurück in die Uni?“, fragt einer. Die Gruppe samt Hasen macht kehrt, verteilt auf dem Rückweg noch die letzten Mohrrüben. Als Andenken hinterlässt sie Spuren von grünem Karottenkraut auf dem Gehweg. Und ein gutes Dutzend Straßen- und U-Bahn-Schilder, auf denen die Mohrenstraße jetzt Möhrenstraße heißt.