Deutschlands Vernichtungskrieg im Osten: Die Todgeweihten

Vor 70 Jahren überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Im deutschen Gedenkkalender fehlt der Tag, der mehr als 13 Millionen tote sowjetische Soldaten forderte.

Am 22. Juni 1941 begann Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Bild: dpa

Am 22. Juni 1941 um 3 Uhr 15 riefen deutschen Grenzsoldaten in Koden am Bug ihre sowjetischen Kollegen zu sich. Es gebe etwas zu besprechen. Als eine Handvoll Rotarmisten sich näherte, feuerten deutsche MG-Schützen auf die Arglosen. Sie waren die ersten von mehr als 13 Millionen toten sowjetischen Soldaten, die der Vernichtungskrieg der Nazis im Osten forderte.

Die ersten Tage des Krieges verliefen für die Rote Armee katastrophal. Innerhalb von ein paar Wochen gerieten mehr als 3 Millionen Soldaten in deutsche Gefangenschaft. Hitler hatte vor Kriegsbeginn die Losung ausgegeben, es gehe nicht darum, "den Feind zu konservieren". Generalfeldmarshall von Reichenau befahl der Wehrmacht im Oktober 1941 "die völlige Vernichtung des Sowjetstaates und seiner Wehrmacht und die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke".

Das entsprach dem Ziel des "Unternehmens Barbarossa". Die Nazis wollten die Russen teilweise ausrotten, der Rest sollte vertrieben werden und östlich des Ural in einem Satellitenstaat vegetieren. Leningrad und Moskau sollten von der Landkarte getilgt werden.

Der deutsche Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 sah entsprechend aus. Die Rotarmisten wurden zu Hunderttausenden in Stalags oder Durchgangslagern (Dulags) unter freiem Himmel interniert. Die Nahrungsrationen reichten nicht zum Leben, die Gefangenen gruben Löcher in die Erde, um sich vor Wind, Sonne und Kälte zu schützen. "Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Lagern haben zu verhungern", ließ der Generalquartiermeister des Heers, Eduard Wagner, 1941 verlauten.

Als Admiral Canaris gegen die Behandlung, die völkerrechtlichen Minimalstandards Hohn sprach, protestierte, antwortete Generalfeldmarschall Keitel, dies sei kein "ritterlicher Krieg" - es gehe um "die Vernichtung einer Weltanschauung". Die wenigen, zaghaften Einsprüche von Seiten der Wehrmacht gegen die Misshandlung speisten sich weniger aus moralischen denn aus praktischen Erwägungen. Die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten werde rebellisch, wenn sie das Sterben der Soldaten mitbekomme.

Mit Hungerrationen planmäßig reduziert

Nach 1945 wurde versucht, das Massensterben in den Stalags als Folge "bedauerlicher Umstände", so ein Verteidiger von NS-Angeklagten im Nürnberger Prozess, zu deuten. Aber Unterernährung, Kältetod, Typhus und gezielte Tötungen waren keine misslichen Umstände - sie wurden bewusst herbeigeführt. Es ging darum, so Günther Ferdinand H., Adjutant im Stalag 305, mit Hungerrationen "die Ostbevölkerung planmäßig zu reduzieren". Von den mehr als 3 Millionen sowjetischen Soldaten, die die Wehrmacht im Sommer 1941 gefangen nahm, waren 2 Millionen im Februar 1942 tot.

Es gibt in der modernen Geschichte keine vergleichbare Massentötung von Kriegsgefangenen. Der Historiker Christian Gerlach urteilt, dass drei Gründe den Begriff "Vernichtungspolitik" rechtfertigen: "die Massenerschießungen, die frühe Hungerpolitik und Verschärfung der Versorgungspolitik im Herbst 1941".

Wie es in den Lagern zuging, ist kaum überliefert. Die Quellenlage ist schmal. Ein deutscher Soldat schrieb 1942 über ein Kriegsgefangenlager im Osten, dass "die Gefangenen winselnd vor uns herumkrochen, Menschen, an denen keine Spur von Menschlichkeit mehr war. Die Wachen warfen einen toten Hund über den Stacheldraht. Die Gefangene fielen über das Tier her und rissen es mit den Händen in Stücke."

Der Gefangene Boris Scheremet berichtet in einer 2007 im Chr. Links Verlag erschienen Briefesammlung: "Das Lager war in einem Kiefernwald untergebracht, wir kratzten mit einem Nagel die Rinde ab und ernährten uns so. Nach einiger Zeit war so der ganze Wald weggegessen." Hierzulande gibt es keinen Roman, keinen Film, kein Theaterstück, keinen Gedenktag, keine "ZDF-History"-Sendung. Es ist ein nahezu namen- und bilderloses Verbrechen geblieben.

Nichts, was die Größe des Verbrechens ahnen lässt

Der US-Kriegsreporter John M. Mecklin schrieb am 2. April 1945 über die Befreiung des Stalag 326 in Senne, Ostwestfalen. "Die US-Truppen fanden fast 9.000 Männer, die wie Wilde um ein paar Laibe schwarzes Brot kämpften. Sie sahen, wie sich die Leute an die Gurgel fuhren wegen einer Handvoll Mehl, das im Dreck verstreut war. Dies ist ein Ort, an den man sich erinnern muss, wenn der Nazismus zur Rechenschaft gezogen wird."

Es kam anders. Auch die geschichtssensible bundesrepublikanische Öffentlichkeit konnte sich für die Rotarmisten nicht richtig erwärmen. Sowjetische Kriegsgefangenen gelten noch immer nicht als Opfer der NS-Politik. Entschädigung haben sie nicht bekommen. Es waren Männer, Feinde, deren Rache man auch nach 1945 fürchtete, Soldaten, bei denen Sterben zum Geschäft gehört. Sie blieben eine gesichtslose Masse ohne individuelle Biografie.

2011 gibt es in Deutschland hier einen Gedenkstein an einem Bahnhof, dort ein kleines Denkmal auf einem Ex-Stalag-Gelände. In Zeithain bei Riesa existiert eine Gedenkstätte aus der DDR-Zeit. Aber nichts, was die Größe des Verbrechens ahnen lässt. Kein Datum, kein Ort, keine Erinnerung.

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