Arbeit für die Arbeitsagentur

Der Arbeitslose ist verpflichtet, über seine Lebensumstände Auskunft zu geben. Dafür sind unzählige Formulare auszufüllen, das Chaos ist vorprogrammiert

Alle Langzeitarbeitslosen bekommen demnächst Post, am 19. Juli soll es losgehen. Dann verschicken die Arbeitsagenturen dicke Briefe, die insgesamt 17 Seiten an Formularen und „Hinweisen“ enthalten. Damit ist das neue Arbeitslosengeld II zu beantragen (siehe Kasten).

Gefragt wird nach Kindern und Partnern, nach Wohnungsgröße, Einkünften und Vermögen. Die Langzeitarbeitslosen müssen sich komplett offenbaren, es herrscht eine „Mitteilungspflicht“ wie früher nur bei der Sozialhilfe. Nichts soll den Arbeitsagenturen verborgen bleiben, jedes Schlupfloch wollen sie schließen. Nur eine Frage von vielen: „Wurde Vermögen verschenkt oder gespendet oder an eine andere Person übertragen?“ Der Grund für die Auskunftspflicht: Ersparnisse werden fast komplett angerechnet, nur 200 Euro pro Lebensjahr, maximal 13.000 Euro, sind zulässig. Hinzu kommen maximal 13.000 Euro für eine private Altersvorsorge.

12,8 Prozent aller Arbeitslosen sind Ausländer, doch bisher existieren die Anträge nur auf Deutsch. Doch „zumindest auf Türkisch“ soll es sie demnächst geben, sagt Agentursprecher Klaus Pohl. Und auch sonst seien „Übersetzungen angedacht, wenn die Klientel groß ist“.

Die Fragebögen werden über sechs Wochen gestreckt, damit der „Rücklauf“ ja „gleichmäßig“ erfolgt. Denn das Chaos wäre perfekt, wenn sich alle Langzeitarbeitslosen gleichzeitig bei ihren Beratern drängeln würden, um den Fragebogen abzugeben und ausführlich zu besprechen.

Die Anträge sind ungefähr so kompliziert wie eine Steuererklärung – kaum ein „Kunde“, wie Arbeitslose nun heißen, wird fähig sein, die Formulare ohne Hilfe auszufüllen. Inzwischen planen die Agenturen daher 90 Beraterminuten ein, um die Anträge überhaupt „bearbeitungsreif“ zu machen. Um keine Arbeitskapazitäten zu verschwenden, werden ab Juli alle auslaufenden Bewilligungen von Arbeitslosenhilfe einfach bis zum Jahresende verlängert.

Die Berater werden sich trotzdem sehr beeilen müssen: Schon am 4. Oktober soll die Datenerfassung beginnen. Zur Verstärkung wurden bereits 3.000 Telekom-Mitarbeiter angeheuert. Allerdings kann niemand prognostizieren, ob die neue EDV mit dem klingenden Namen A2LL der Dauerdateneingabe standhalten wird. Ein solches Großprojekt lässt sich vorher nicht sicher simulieren.

Etwas hilflos konstatiert die Bundesagentur daher immer wieder in ihren internen Rundschreiben, sie befinde „sich gegenwärtig im tiefst greifenden Reformprozess ihrer Geschichte“. Da will man nichts dem Zufall überlassen. In einem „vorläufigen Handlungsleitfaden“ werden die Mitarbeiter beispielsweise aufgeklärt, dass „die erforderlichen Pendelhefter zentral beschafft“ werden.

Das interne Chaos bei den Agenturen dürfte in den nächsten Monaten gewaltig sein, dennoch gehen auch die Erwerbsloseninitiativen davon aus, dass das neue Arbeitslosengeld II pünktlich zum 1. Januar kommt. „Leider“, sagt Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen. „Jeder Monat Arbeitslosenhilfe mehr ist ein guter Monat.“

Etwa zwei Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger gibt es momentan – davon werden mehr als 500.000 keine Leistungen mehr empfangen, sobald das neue Arbeitslosengeld II eingeführt ist. Denn dann werden Partnerschaftseinkommen fast vollständig angerechnet. Dies trifft vor allem Frauen – und vor allem den Osten, denn dort waren mehr Frauen erwerbstätig. Eine weitere Million Menschen wird weit weniger Geld bekommen als bisher. Bundeskanzler Schröder versicherte zwar erst kürzlich wieder: „Dieser Paradigmenwechsel ist gewollt!“ Doch seine SPD-Fraktion wird nervös angesichts der Wahlverluste. Plötzlich entdecken die Abgeordneten, dass eigentlich nicht nur von Fordern die Rede war – sondern auch von Fördern der Arbeitslosen.

6,35 Milliarden Euro hat Wirtschaftsminister Clement für Eingliederungsprojekte gesammelt. Ein Konzept, wie diese aussehen sollen, hat er jedoch nicht

Auf der letzten SPD-Fraktionssitzung fand sich sofort eine Mehrheit: Man müsse etwas tun für die 500.000 Langzeitarbeitslosen, die künftig keine Unterstützung mehr bekommen. „Eine Weiterbildung“, schlug Sozialpolitikerin Karin Roth vor. Ähnliches möchte auch Fraktionschef Franz Müntefering.

Konkreter ist man allerdings nicht geworden. „Das hängt von den Finanzverhandlungen im Vermittlungsausschuss ab“, heißt es vage bei der SPD. Denn das Finanzielle ist tatsächlich ein Problem. Im Einzelhaushalt des Bundeswirtschaftsministeriums sind zwar 6,35 Milliarden Euro vorgesehen, um „Eingliederungsmaßnahmen“ für Langzeitarbeitslose zu finanzieren – aber davon soll nur profitieren, wer Arbeitslosengeld II bezieht.

Auch der Begriff „Weiterbildung“ ist tückisch, den die SPD-Politikerin Roth so wohlmeinend verwendet. Denn seit einem Jahr verfolgt die Bundesagentur für Arbeit die Devise, dass Trainingsmaßnahmen nur gefördert werden, wenn die Chance bei 70 Prozent liegt, dass hinterher die „Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt“ gelingt. Konsequenz: Die Ausgaben für Weiterbildung gingen bei der Bundesagentur sogar noch stärker zurück als geplant. Es wäre jedoch sehr eigenartig, wenn 500.000 Ex-Arbeitslosenhilfeempfänger plötzlich in Kursen landen würden, die anderen Arbeitslosen verwehrt werden.

Dieses Dilemma wird nicht nur die SPD-Fraktion verfolgen – sondern hat SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement längst eingeholt. Denn er hat kein Konzept, wie er die für die Eingliederungsmaßnahmen vorgesehenen 6,35 Milliarden Euro ausgeben soll. „Jedem Arbeitslosen wird ein Angebot gemacht“, hat er einst versprochen. Doch das ist gar nicht so einfach, wenn man Weiterbildungskurse an die Auflage koppelt, dass hinterher möglichst viele Teilnehmer tatsächlich einen Job finden. Dann bleibt als Alternative nur noch das „kommunale Beschäftigungsprojekt“. Also im Zweifel das Harken im Stadtpark.

Solche gemeinnützigen Jobs existierten bisher schon für Sozialhilfeempfänger – nun sollen sie auf alle Langzeitarbeitslosen ausgedehnt werden. Neben dem Arbeitslosengeld II erhielten sie dann noch eine „Aufwandsentschädigung“ von vielleicht einem Euro pro Stunde.

Das klingt wie ein gutes Geschäft für die Kommunen, doch die sind gar nicht scharf auf die Billigarbeiter. Schließlich macht es Arbeit und verursacht Kosten, diese ungelernten Truppen künstlich mit Tätigkeiten zu versehen. Also haben die Gemeinden ihre Beschäftigungsprojekte reduziert, sobald sich abzeichnete, dass künftig der Bund weitgehend die Kosten für die Sozialhilfeempfänger übernimmt und nicht mehr die Kommunen.

2002 soll es noch etwa 390.000 gemeinnützige Jobs in den Gemeinden gegeben haben – inzwischen wurden viele abgebaut –, doch Clement braucht mindestens 600.000 kommunale Beschäftigungsplätze. Und selbst dann bekommt längst nicht jeder Langzeitarbeitslose ein Angebot. Als so genannte Aktivierungsquote wird bei Erwachsenen 23 Prozent angepeilt. Und selbst dieses außerordentlich bescheidene Ziel dürfte nicht zu erreichen sein.

Die Gemeinden staunen sowieso, dass ausgerechnet die kommunalen Beschäftigungsprojekte plötzlich so beliebt sind: „Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt ist fast nie gelungen“, mussten sie feststellen. Hämischer Nachsatz: „Deswegen wurden Sozial- und Arbeitslosenhilfe doch überhaupt erst zusammengelegt.“

Die Arbeitsloseninitiativen vertrauen sowieso nur noch der Förderung durch eigene Findigkeit. Unter www.erwerbslos.de sind die besten Tricks zu finden. Erster Tipp: So schnell wie möglich Wohngeld beantragen, „auch wenn Sie nicht sicher sind, ob Sie einen Anspruch haben“. Nach dem Motto: „Lieber ein Antrag zu viel als zu wenig.“ Zweiter Tipp: Überbrückungsgeld oder eine Ich-AG beantragen und so tun, als ob man sich selbstständig machen würde. Das habe nur „Vorteile, kaum Risiken und keine Nachteile“. Falls die Existenzgründung scheitert, kann man den alten Anspruch auf Arbeitslosengeld aufleben lassen. So lässt sich der Absturz ins Arbeitslosengeld II um mindestens sechs Monate hinauszögern. Allerdings wird dringend vor Existenzgründungen gewarnt, die hohe Investitionen erfordern – „etwa der eigene Blumenladen oder die eigene Imbissbude“. Da bleiben nach der Pleite nur Schulden. Gut geeignet seien hingegen Selbstständigkeiten als „freier Journalist“, „freier Dozent“ oder „im Bereich haushaltsnahe Dienstleistungen“.