Zeitlos groß in Klagenfurt

Bei aller gebotenen literarischen Qualität: Auf den 28. Tagen der deutschsprachigen Literatur zu Ehren Ingeborg Bachmanns in Klagenfurt wurde offenbar, dass sich die deutsche Gegenwartsliteratur erstaunlich wenig für die Gegenwart interessiert

AUS KLAGENFURT GERRIT BARTELS

Am frühen Freitagnachmittag, die Sonne hatte sich in Klagenfurt gerade mühsam durch viele dunkle Gewitterwolken gearbeitet, war es endlich auch in den schmucklosen Räumlichkeiten des ORF-Theaters so weit. Plötzlich waren die vielen ordentlichen und guten und nicht nur gut gemachten Texte nur noch „mittelmäßige Texte, über die wir viel zu lange geredet haben“, wie es Jurymitglied Heinrich Detering ausdrückte. Schlagartig waren auch die öden Wettbewerbe der letzten Jahre vergessen, die hie und da geäußerten Forderungen nach der Abschaffung des Klagenfurter Bachmann-Lesens, die im Vorfeld entrüstet als Wiedergänger entlarvt wurden, aber immerhin für willkommenen Gesprächsstoff sorgten.

Endlich ein Schwergewicht

Die neunköpfige Jury nämlich, sie hatte endlich ein literarisches Schwergewicht gefunden, einen großen Autor: Uwe Tellkamp, geboren 1968 in Dresden, von Beruf Arzt und Autor, Unfallchirurg und Verfasser des 2000 bei Leipziger Verlag Faber & Faber erschienenen und weithin ignorierten Romans „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café“.

Als viel zu knapp empfand die Jury auf einmal die Zeit, um Tellkamps Text, einen Romanauszug, würdigen zu können, und als viel zu klein auch die sonst fein und mit Bedacht gewählten Worte: „Ganz große Kunst, ganz große Literatur“, schwärmte Ursula März, mit „sehr, sehr schön, sehr groß, sehr kunstfertig“, sekundierte ihr Heinrich Detering, während die Jury-Vorsitzende Iris Radisch sich „wie eine Blume begossen“ fühlte dank der Fülle und Überfülle dieses Textes. Und tatsächlich: Tellkamp begibt sich in diesem auf eine vielstimmige, vielperspektivische und auch musikalische Erinnerungsreise, und zwar mit einer Straßenbahn durch das Dresden der Kriegs-, Nachkriegs- und Vorwendezeit ist. Ein genauso gekonnter wie sinnlicher Text, aber auch ein düsterer, in vielen dunklen Farben gehaltener.

Mit absoluter Mehrheit

Nun mochte Tellkamp bei dem in diesem Jahr zum 28. Mal stattfindenden Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eine echte Entdeckung gewesen sein, ein alle anderen überstrahlendes Juwel: Mit einer absoluten Mehrheit von fünf der neun Stimmen wurde ihm der 22.500 Euro dotierte Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Doch wies seine Entdeckung mitnichten auf das schlichte Mittelmaß der anderen. Dieser Bachmann-Jahrgang war literarisch gesehen ein guter, interessanter und abwechslungsreicher. Es war ein Wettbewerb, bei dem man sich nie sicher sein konnte, ob auf einen guten Text nicht schon bald ein besserer folgte; der gar durch einige lebendige Vorträge auffiel, wobei es Richard David Precht leider übertrieb mit seiner anbiedernden Performance; und dessen Beiträge es schafften, die oft sehr einig wirkende Jury und ihr diesen Wettbewerb mit konstituierendes, in diesem Jahr manchmal etwas müde wirkendes Diskutieren und Bewerten gar in den Hintergrund treten zu lassen. Ja, man ertappte sich dabei, nicht gleich etwas von der Jury hören, dem Text erst mal seinen eigenen Nachhall geben zu wollen.

Kurz nach Tellkamps Auftritt überzeugte auch der Berliner Autor Arne Roß mit seinem langsamen, anrührenden Text über einen alten Mann; ein passabler, wenngleich nicht brillanter Text, der mit seiner Thematik stark an den von Inka Parei aus dem Vorjahr erinnerte. Er wurde gleichfalls unisono belobigt und bekam den mit 10.000 Euro dotierten Preis der Jury. Aber auch in Wolfgang Herrndorf und seiner melancholischen Herr-Lehmann-Variation „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ fand sich schon früh ein erster möglicher Sieger; auch Thomas Raab und Andreas Münzner lieferten gute Arbeiten ab, der eine mit einer perfekt collagierten Mediensatire, der andere mit einem genauen, bewusst undeutlich gehaltenen Familienfeier-Text; auch Simona Sabato, Dorothea Dieckmann und Bettina Balàka wussten positiv Kontroverses vorzulesen. Dabei riss Sabato mit ihrem bewusst ungeordneten Chaostext, dem Psychogramm einer Wahnsinnigen, die größten Gräben in der Beurteilung auf („unsortiert“, „zu viel schlechter Müll“, „Gaga-Text“ hieß es da zu Anfang), bekam am Ende aber den mit 7.000 Euro dotierten Ernst-Willner-Preis; und schließlich entpuppte sich der deutsch-luxemburgische Autor Guy Helminger als weiterer Preisanwärter und späterer 3sat-Preisträger (7.500 Euro): mit einem mitunter komischen Suspense-Text über einen Neurotiker und dessen gewaltsame Besitznahme einer bei einem Verkehrsunfall verunglückten Frau.

Ich bin engagiert!

Was aber bei aller Qualität auffiel in diesem Jahr: Die deutsche Gegenwartsliteratur, so sie sich denn in Klagenfurt als repräsentativ darstellte, interessiert sich nicht mehr besonders stark für die Gegenwart. Und damit auch die führende Literaturkritik, denn schließlich ist es die Jury, die die Texte vorab auswählte. Kindheitserinnerungen dominierten, Texte mit starken Kinderperspektiven, wie die von Sandra Hoffmann, Richard David Precht, Roswitha Haring; und solche, in denen die deutsche Vergangenheit einen großen Raum einnimmt, wie die von Uwe Tellkamp, Artur Becker, Andreas Münzner, Bettina Balàka und Arno Geiger. Wo die Gegenwart doch einmal im Zentrum stand, auf dem Schulhof bei Juli Zeh, im Gefängnis auf Guantánamo bei Dorothea Dieckmann, in der Castingshow bei Thomas Raab, hatte sie etwas zu eben Formatiertes, platt Ideologisches (Juli-ich-bin-eine-politisch-engagierte-Schriftstellerin-Zeh), war sie zu sehr der durchschnittlichen Vorstellungswelt entrissen (Dieckmann) oder geriet sie zu einem kühl durchkalkulierten, mechanisch anmutenden Experiment (Raab).

Diese merkwürdige Gegenwartslosigkeit fällt gerade in einem mehr als literaturfernen Ort wie Klagenfurt auf, in der zufällig Ingeborg Bachmann geboren ist, und passt zu den innerbetrieblichen Begleiterscheinungen des Bachmann-Lesens: hier eine Stadt, in der die Kronenzeitung auf dem Neuen Platz ihr unsägliches „Kronenfest“ veranstaltet; eine Stadt, die es, ach Gott, ach Gott, nicht schafft, eine große EM-Leinwand im Zentrum aufzustellen, was für einen großen Aufreger bei der ortsansässigen Kleinen Zeitung sorgt; und deren stets braun gebrannter Kulturreferent ein Dessoushändler ist, der eine halbe Stunde bei den Lesungen vorbeikommt, sich ein Manuskript auf der richtigen Seite aufschlagen lässt und dann telegen in die ORF-Kamera lächelt.

Und dort, in einer anderen Wirklichkeit, der deutschsprachige Literaturbetrieb, der mit Tunnelblick seinen immer gleichen Klagenfurter Vergnügungen nachgeht: baden, Rad fahren, Fußball spielen, Obstler trinken beim Philosophieprofessor Mitterer, essen im See-Restaurant Maria Loretto und beim Bürgermeisterempfang im Stadthaus.

Zu dieser eigenen Literaturbetriebswirklichkeit passen natürlich auch Irritationen in der Jury, als ein Name wie der des englischen Popstars Paul Weller auftauchte, Daniela Strigl nichts mit dem goldenen Hanuta-Papierchen anfangen konnte oder Heinrich Detering in Raabs Castingtext gleich den eigenen Wettbewerb gespiegelt sah: Klagenfurt sucht den Superautor. Das war nett und stimmte vielleicht als Bild, hat aber mit der Wirklichkeit doch nur wenig zu tun, man vergleiche nur die Einschaltquoten des das Bachmann-Lesen übertragenden Fernsehsenders 3sat und eben RTL.

Man könnte es auch so sagen: Der Bachmann-Preis wird immer dann vergeben, wenn ein Autor wie Guy Helminger in einem der den Lesungen vorangestellten Fernsehporträts vorgestellt wird als „ehemaliger Barkeeper in einer Punk-Kneipe, der jetzt Familienvater ist“. Pop und Literatur, no way! Da konnte auch der Neujuror Klaus Nüchtern mit seinem schönen und lockeren Durchblickertum nichts reißen, und da passte es, dass Wolfgang Herrndorf mit dem vielleicht gegenwärtigsten Klagenfurt-Text bei der Preisvergabe immer nur von Klaus Nüchtern nominiert wurde, am Ende aber den Publikumspreis bekam: Das Publikum tickt immer anders als die Literaturkritik.

Der unkaputtbare Preis

Möglicherweise aber ist es genau diese Unvereinbarkeit von Klagenfurt und Literaturbetrieb, von der Gegenwart und der deutschen Gegenwartsliteratur, die den Charme, die Unkaputtbarkeit und die Einmaligkeit dieses Wettbewerbs ausmachen – in Berlin oder in Frankfurt, und auch in keiner Lüdenscheider Turnhalle hätte er eine Chance. Und trotzdem, trotz dieses gegenwartslosen, aber erstaunlich guten Jahrgangs sehnt man sie sich eines Tages herbei: den Autor oder die Autorin, der oder die in den Neunzigerjahren die verlorene Zeit sucht oder eine Parallelhandlung zu beschreiben und die Tristesse oder auch Großartigkeit der Nullerjahre in eine große literarische Form zu gießen weiß.