Der Verräter von Abu Ghraib

„Ich bin kein dummes Rädchen im Getriebe, ich lasse mir nicht den Mund verbieten“Die US-Army bleibt für ihn „eine großartige Organisation, die für das Gute kämpft“

VON KIRSTEN GRIESHABER

Das kämpferische Naturell sieht man Samuel Provance nicht an. Er wirkt unschuldig, fast verletzlich, seine Gesichtszüge wecken eher Beschützerinstinkte als Respekt. Auf den ersten Blick würde man diesem Mann nie zutrauen, dass er der mächtigsten Armee der Welt den Krieg erklärt hat.

Mit leichtem Schritt betritt Provance das italienische Restaurant „Da Mario“ im Zentrum von Heidelberg. Trotz seiner 30 Jahre sieht er aus wie ein College-Kid mit ausgewaschener Jeans und schlabbrigem T-Shirt. Nur der kurze Haarschnitt, rasiert an den Seiten und ein paar Millimeter länger am Hinterkopf, verrät ihn. Selbst wenn er nach Zapfenstreich in Zivil unterwegs ist, steht Samuel Provance im Dienste der US-Armee. Der Unteroffizier ist Soldat ebenjener Streitkräfte, die er seit Wochen so hartnäckig bekämpft.

Ruhig und im melodiösem Südstaatendialekt erzählt Provance seine Geschichte, während er nebenbei eine Tomatensuppe löffelt. Fünf Monate lang war er im Gefängnis Abu Ghraib stationiert, von September 2003 bis Februar 2004. Fünf Monate lang war er in der Hölle. Und nun will er, dass die ganze Welt erfährt, was er in Abu Ghraib erlebt und gehört hat. Auch wenn ihn seine Kameraden als Verräter beschimpfen und ihm wegen seiner öffentlichen Aussagen ein Strafverfahren vor dem US-Militärgericht droht, wie er sagt.

„Ich bin ein eigenständig denkender Mensch und nicht nur ein dummes Rädchen im Getriebe, ich lasse mir nicht den Mund verbieten.“ Er spricht leise, aber mit Nachdruck. Er erzählt von der Folterungen an irakischen Gefangenen, von den Misshandlungen und Demütigungen und davon, dass die Regierung versucht, den Skandal eher zu vertuschen, als aufzuklären. Und das sei der Grund, warum er an die Öffentlichkeit geht.

„Abu Ghraib ist ein schwarzes Loch. Es ist in eine solche Finsternis getaucht, dass man glauben könnte, dort würde es spuken“, sagt Provance. Er erzählt von nächtlichen Mörserattacken auf das Gefängnis und davon, dass auch die US-Soldaten in Zellen schlafen mussten. Wenn sie konnten. Die schlaflosen Nächte versuchten sie mit Kartenspielen und Musikhören totzuschlagen. Auch in der spärlichen Freizeit waren sie eingesperrt. Abu Ghraib zu verlassen, wäre lebensgefährlich gewesen – vor den Toren warteten wütende Iraker nur darauf, die Besatzer ins Fadenkreuz zu nehmen. Die psychische Anspannung war unerträglich, sagt Provance.

Schlimmer als die eigenen Qualen waren die Folterungen der irakischen Gefangenen. „Keiner kann behaupten, er habe nichts davon gewusst“, sagt er. „Wir wussten alle, dass dutzende von Soldaten beteiligt waren, die den Gefangenen bei den Verhören regelmäßig Gewalt angetan und sie sexuell erniedrigt haben.“ Provance zögert nicht, auch drei Kameraden anzuprangern (Namen sind der Redaktion bekannt). Es seien eben nicht nur die Reservisten von der Militärpolizei gewesen, sondern auch Leute aus seiner eigenen Einheit, dem 302. Bataillon des Militärischen Nachrichtendienstes. „[…], die drei haben vor uns allen damit angegeben, dass sie die Irakis bei den Verhören geschlagen haben“, erzählt er.

„Fear-up Approach“ heißt diese Verhörmethode im Soldatenjargon und sie wurde häufig in Abu Ghraib angewandt. Die Gefangenen sollten so lange körperliche Gewalt, Angstzustände und Erniedrigungen erleiden, bis sie redeten. Auch Provance’ drei Kollegen waren erfindungsreich, wenn es ums Quälen ging. Einer von ihnen verkleidete einen Gefangenen mit einem langen Umhang als Supermann und jagte ihn durchs Zimmer. Immer wieder zwangen sie die Iraker, Frauenunterwäsche anzuziehen; ständiger Schlafentzug und das Überziehen von Kapuzen gehörten ebenfalls zur Routine.

Routine, von der alle wussten. „Alle“ heißt, auch Sergant Provance. Doch auch er hielt den Mund – so lange, bis im Januar die interne Untersuchung anlief, so lange, bis ihn jemand gefragt hat. Jeder Soldat bekam einen Fragebogen und sollte aufschreiben, was er wusste. „Ich dachte, alle würden die Wahrheit sagen.“ Offenbar war dem nicht so.

„Diese Soldaten sind keine toughen Männer“, sagt Provance. Er sucht nach den Gründen. „Die meisten sind Kinder, die unvorbereitet totale Macht über ehemalige Generäle und andere hohe Tiere des Saddam-Regimes bekommen haben. Das ist denen völlig zu Kopf gestiegen.“ Er selbst hatte kaum mit Gefangenen zu tun, er ist Computerspezialist, deshalb hatte man ihn nach Bagdad versetzt. Er sollte das Computersystem warten und die Datenbank. Anfangs war er einfach nur verwundert, weil die Datensätze des Gefängnisses chaotisch waren, weil niemand wusste, wer hier einsitzt, wie viele es sind.

Nur ein einziges Mal sei er bei einem Verhör dabei gewesen – „als bewaffneter Wachmann“, wie er sagt. Und dann erzählt Provance von dieser Nacht, wie er in ein Verhörzimmer gerufen wurde und plötzlich vor diesem 16-jährigen Jungen stand – nackt, zitternd und so dünn, dass die Handschellen nicht passten. Erst später erfuhr er, was passiert war. Dass ein ehemaliger Saddam-General nicht reden wollte. Dass sich die US-Soldaten darum seinen Jungen schnappten, ihn mit Wasser übergossen und mit Matsch beschmierten. Dass sie ihn auf einen Pick-up warfen und mit ihm Stunden durch die kalte Nacht fuhren. Dass sie den zitternden Jungen dann dem Vater präsentierten und der Vater dann gesprächsbereiter war – nach seinem Zusammenbruch.

Es gehe ihm nicht darum, seine Kameraden anzuschwärzen, erklärt Provance. Es gehe ihm um die Wahrheit, um nicht mehr und nicht weniger. „Ich bin schon immer auf der Suche nach der Wahrheit gewesen“, erklärt er. „Auch wenn ich mir damit noch nie Freunde gemacht habe. Aber ich habe schon als Kind gelernt, nur mir selbst zu vertrauen, ich bin halt ein Einzelgänger.“

Und er ist zäh. Provance will den biblischen Kampf von David gegen Goliath im 21. Jahrhundert noch einmal gewinnen. Die wahren Ausmaße des Abu-Ghraib-Skandals würden geleugnet und vertuscht, behauptet er kühn. Das US-Verteidigungsministerium versuche, die Rolle des Militärnachrichtendienstes bei den Misshandlungen herunterzuspielen und die Schuld auf einige unbedeutende Militärpolizisten abzuwälzen. Um dieses „Cover-up“ aufzudecken, hat sich der Unteroffizier aus dem idyllischen Williamsburg in Virginia dem „Don’t talk“-Befehl seiner Vorgesetzten widersetzt und als Verstärkung die Medien mit in den Kampf gebracht.

In den vergangenen Wochen hat Provance dem US-Nachrichtensender ABC News, der Washington Post, der New York Times und der Los Angeles Times mehrere Interviews zur Rolle des Militärischen Nachrichtendienstes bei den Folterungen in Abu Ghraib gegeben. Seine Vorwürfe werden in die ganze Welt getragen und in diverse Sprachen übersetzt. Man nennt ihn einen Whistle-Blower, einen, der in die Trillerpfeife bläst, bis ihn keiner überhören kann. Jetzt steht er im Rampenlicht und er scheint es zu genießen. Jeden Morgen googelt er seinen Namen im Internet und klickt sich durch die neuen Frontberichte.

Doch die mächtigste Armee der Welt lässt sich nicht ungestraft vorführen, schon gar nicht von einem Verräter aus den eigenen Reihen. Der Gegenschlag folgte umgehend. „Ich bin in eine andere Einheit versetzt worden und kann nicht mehr befördert werden“, erzählt Provance. „Meine Kollegen schneiden mich und meine Rechtsanwälte befürchten, dass ich wegen Befehlsverweigerung vor ein Militärgericht geladen werde.“ Der massive Druck scheint Provance nicht sehr zu verstören. Er lächelt friedlich, bestellt sich noch einen Kaffee und wirkt, als würde ihn das alles in seinem moralischen Überlegenheitsgefühl geradezu bestärken.

Schon als Jugendlicher habe er sich mit seiner Umwelt angelegt, sagt er. Ohne Rücksicht auf Verluste, nur der inneren Stimme folgend. Mit 16 zog er von zu Hause aus, weil er sich von seiner Mutter vernachlässigt fühlte und sich mit ihrem Liebhaber prügelte. „Ich habe die High School abgebrochen und bei Dunkin’ Donuts gearbeitet“, erzählt er. Dann kam seine religiöse Phase. Er trat der christlich-fundamentalistischen Green Springs Pentacostal Church bei und widmete sich ganz seinen Bibelstudien. Frauen waren tabu, er lebte zurückgezogen wie ein Mönch. Die Gemeindeobersten waren von seiner Frömmigkeit so entzückt, dass sie ihm ein Stipendium für das Holmes Bibel College in Greenville, South Carolina, andienten. Provance sollte Prediger werden.

„Das Problem war, dass ich zu viele Fragen stellte, je mehr ich über Gott lernte. Irgendwann hab ich selbst die Existenz Gottes in Frage gestellt. Das war der Anfang vom Ende meiner Gläubigkeit.“ Es war auch das Ende seines Studiums am Bibel College. Die Kommilitonen schnitten Provance, als sei er der Leibhaftige in Person, und nach drei Jahren verließ er die Uni ohne Abschluss.

Doch seine persönliche Mission, die Suche nach der guten, reinen, puren Wahrheit, habe ihn weiter getrieben und ihn 1999 schließlich zur US-Army gebracht. Er ließ sich von der 101st Airborne Division in Fort Cambell, Kentucky, rekrutieren und wechselte nach drei Jahren zum Militärischen Nachrichtendienst. Im November 2002 wurde er nach Heidelberg versetzt und von dort aus über Kuwait in den Irak-Einsatz geschickt.

„Als wir in den Irak gezogen sind, war ich überzeugt, dass wir das Richtige tun. Wir mussten die Massenvernichtungswaffen finden, das Volk befreien und wieder in die demokratische Weltgemeinschaft zurückführen“, erinnert sich Provance. Inzwischen ist er nicht mehr sicher, ob die Amerikaner sich im Irak wirklich richtig verhalten haben. Doch trotz aller Zweifel und obwohl er von seinen Vorgesetzten degradiert und abgestraft wurde, sei die US-Army für ihn „eine großartige Organisation, die für das Gute in dieser Welt kämpft“.

Provance ist fest davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Abu-Ghraib-Skandal vollständig aufgedeckt wird, die USA ihr Ansehen als wohlwollende Weltmacht zurückgewonnen haben und er als „edler Kämpfer“ rehabilitiert wird. Wenn er von der Zukunft redet, leuchten seine Augen. Und mit unerschütterlichem Optimismus verrät er sein wahres Glaubensbekenntnis: „Am Ende siegt die Wahrheit. Immer.“