Lange Arbeitzeit macht arbeitslos

Deutschland streitet über die Arbeitslosigkeit. Es gibt viele Reformvorschläge, eine alle überzeugende Idee scheint nicht dabei. Wie auch?, sagt der Bremer Wissenschaftler Helmut Spitzley: Wirtschaftswachstum hilft nicht mehr gegen die Arbeitslosigkeit

„Entweder wir akzeptieren Massen-arbeitslosigkeit oder wir verteilen um.“

taz ■ Dass der Arbeitsmarkt in Deutschland „zubetoniert“ sei, hat jüngst der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) festgestellt. „Beschäftigungswachstum“ könne es erst geben, so Wulff, wenn der Druck gesteigert werde: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes müsse verringert werden, im ersten Monat der Arbeitslosigkeit solle die Unterstützung zudem um 25 Prozent geringer ausfallen – und der Kündigungsschutz für Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten bei Neueinstellungen künftig nicht mehr gelten. Reaktion des Bezirksvorsitzenden für Bremen/Niedersachsen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Hartmut Tölle: „Wulff hat sich mit wohl gesetzten Tönen an die Spitze der Hardliner gesetzt.“ Ende der Debatte.

Diese Strukturen in Diskussionen wiederholen sich seit Jahren. Je länger die Arbeitslosenzahlen auf dem derzeitig hohen Niveau stehen bleiben, um so „härter“ werden die Vorschläge, Druck zu machen – als ob diejenigen, die keine Lust auf Arbeit haben und denen die sozialen Transfer-Leistungen ausreichen, das Hauptproblem darstellen würden.

„Das Problem liegt woanders“, sagt der Wissenschaftler Helmut Spitzley, Professor an der Universität Bremen und Mitarbeiter des Institutes Arbeit und Wirtschaft (IAW). „Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist Deutschland von Kriegen verschont geblieben. Unser Land wurde von unseren Eltern aufgebaut und wir ernten die Früchte dieser Leistung. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts werden in Deutschland mehr als zweitausend Milliarden Euro (2.200.000.000.000 Euro) vererbt. Unsere Gesellschaft verfügt damit über ein materielles Wohlstandsfundament, das es auf einem solch hohen Niveau in der Geschichte noch niemals gegeben hat. Und es geht weiter: Selbst wenn das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr ’nur’ bei 0,5 Prozent liegt, bedeutet dies, dass wir die Produktionsrekorde der letzten Jahre toppen. Selbst Nullwachstum bedeutet Produktion auf Rekordniveau“, schreibt er in seinem Aufsatz „Vom Unsinn der Arbeitszeitverlängerung“. Auch die Verlagerung der Produktion in Billiglohn-Länder und die Steigerung der Arbeitsproduktivität führen dazu, dass mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft immer mehr hergestellt wird.

In der Folge von Wirtschaftswachstum und Produktivitätsgewinnen wurde zudem die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit nicht geringer. Wenn in 1960 der Mann beispielsweise 44 Stunden pro Woche erwerbstätig war und die Frau ihre Arbeit auf Haushalt und Kinder konzentrierte, sind heute deutlich mehr Frauen erwerbstätig – diese Stunden müsse man zu den aktuell 38 Stunden des Mannes hinzu rechnen, führt Spitzley aus.

„Vollbeschäftigung“ sei zu den alten Bedingungen derzeit nicht erreichbar, sagt Spitzley. Denn „um die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit abzubauen und allen Erwerbsarbeit suchenden Menschen Jobangebote machen zu können, müsste die Wirtschaft über Jahre hinweg um 4, 5 bis 6 Prozent wachsen. Solch hohe Wachstumsraten waren ausgehend von einem extrem niedrigen Niveau in der Aufbauphase nach dem Krieg üblich.“ Heute sind diese Wachstumsraten völlig illusorisch – und auch nicht erforderlich, um den materiellen Reichtum unserer Gesellschaft zu sichern. „Es kommt daher einer Lebenslüge gleich, wenn Politik und Gesellschaft sich der Illusion hingeben, allein mit Wirtschaftswachstum ließe sich die gegenwärtige Erwerbsarbeitslosigkeit überwinden.“

Der Druck auf die Bezieher von Transfer-Leistungen wie Arbeitslosengeld könne die Bereitschaft steigern, Handlanger-Jobs am unteren Ende der Lohnskala anzunehmen, so Spitzley. Aber das erforderliche Wirtschaftswachstum könne das nicht ersetzen.

Fazit: „Entweder wir akzeptieren weiterhin hohe und wahrscheinlich sogar wachsende Massenarbeitslosigkeit oder wir definieren Arbeit grundsätzlich neu und verteilen sie fair auf alle Erwerbsarbeit suchenden Menschen.“ Spitzley verweist auf Studien, nach denen im internationalen Vergleich die Länder beschäftigungspolitisch erfolgreich sind, die kurze Arbeitszeiten haben: Die Niederlande und Dänemark.

Vielleicht 32 oder 30 Stunden pro Woche (oder eine entsprechende Jahresarbeitszeit) könnte eine vernünftige Norm sein, sagt Spitzley, dann gäbe es Vollbeschäftigung. Und er verweist darauf, dass bei betrieblichen Arbeitszeitabsenkungen zur Beschäftigungssicherung bereits heute Geld gegen Zeit getauscht wird. Beschäftigungsförderliche Arbeitszeitabsenkungen müssten steuerlich gefördert werden – auch bei den Ansprüchen auf die Alters-Sicherungen. Der gewonnene „Zeitwohlstand“ könnte in Engagement für gesellschaftlich nützliche Aufgaben umgesetzt werden, auch zu mehr „Geschlechtergerechtigkeit“ führen, als „Chance für alle auf eine befriedigende Balance von Arbeiten und Leben“ genutzt werden. Erst wenn „tatsächlich wieder mehr Erwerbsarbeitsplätze angeboten würden als nachgefragt werden, wäre ein gesellschaftlicher Diskurs darüber sinnvoll, ob die Normalarbeitszeit für alle wieder länger sein könnte oder müsste“, schreibt Helmut Spitzley. kawe