Ein heikler Entführungsfall

Wie eine Polin ihr Kind entführen ließ, um es vor der „Germanisierung“ zu bewahren – und damit zur Nationalheldin aufstieg. Eine Geschichte über das zweifelhafte Verständnis mancher Jugendämter in Deutschland vom „Wohl des Kindes“

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Reifen quietschen. Zwei Kinder und eine Frau schreien laut auf. Aus dem silberfarbenen VW-Golf springen zwei Männer. Mit Tränengas setzen sie die Mutter und ihre kleine Pflegetochter außer Gefecht. Den neunjährigen Jungen zerren sie ins Auto, klemmen ihn auf der Rückbank zwischen sich. Er schreit vor Angst und Entsetzen. Passanten wollen den Golf aufhalten. Vergeblich. Stunden später findet die Polizei den verlassenen Wagen in einer Seitenstraße Düsseldorfs, unweit des Tatorts. Gemietet hatte ihn am Vortag Beata Pokrzeptowicz-Meyer, die Entführerin und leibliche Mutter des Jungen.

Wochen später. Im Januar 2009 tappt die Polizei noch immer im Dunkeln. Während in Deutschland die Medien von der Entführung des kleinen Moritz zunächst kaum Notiz nehmen, steigen polnische Zeitungen und Fernsehsender voll in das Familiendrama ein. Die mit internationalem Haftbefehl Gesuchte gibt lange Interviews. An einem geheimen Ort in Polen fängt die Kamera das Bild des mit einem Flugzeug spielenden Moritz ein. Er versteht, was seine Mutter auf Polnisch sagt, wendet sich selbst aber in deutscher Sprache an sie. Beata Pokrzeptowicz-Meyer, eine intelligent und ein wenig schüchtern wirkende Frau, sagt leise: „Mein Mann wollte nicht, dass Moritz nach unserer Scheidung Polnisch lernt. Das Jugendamt auch nicht.“

Die 42-Jährige steigt zur Nationalheldin Polens auf. Sie habe ihren Sohn vor der Germanisierung gerettet. Die Entführung sei zwar unrecht – ihr drohe nun Gefängnis –, doch das vom deutschen Jugendamt ausgesprochene „Polnisch verboten“ sei noch viel schlimmer. Das Verbot erinnert Polen an die brutale Germanisierungspolitik Bismarcks Ende des 19. Jahrhunderts und an den Zweiten Weltkrieg, als die Nazis in Polen tausende blonde und blauäugige Kinder raubten, sie in Züge pferchten und ins Deutsche Reich schafften. Die Nazi-Jugendämter verteilten die „reinrassigen Kinder“ aus dem südpolnischen Kreis Zamość zur Adoption an SS-Familien. Nach dem Krieg fanden nur wenige dieser Kinder ihre polnischen Eltern wieder. Sie hatten ihre Muttersprache verlernt und konnten sich oft nicht einmal an die Namen ihrer Eltern und Geschwister erinnern.

In Deutschland erscheint das Argument absurd, deutsche Jugendämter wollten wie in der Nazizeit polnische Kinder „germanisieren“. Kaum jemand weiß, welche Rolle die Jugendämter unter Hitler spielten. Kaum jemand hat auch je von der Aktion Zamość gehört mit über 100.000 vertriebenen und zur Zwangsarbeit ins Reich geschickten Polen, denen noch dazu die Kinder gestohlen wurden. Das gehört nicht zum Schulunterricht. Grotesk erscheint der Vorwurf, ein Jugendamt oder Familiengericht könnte einem Kind seine Muttersprache verbieten. „Polnisch verboten!“ So wie in der Nazizeit? Undenkbar!

„Nie hätte ich gedacht“, sagte Beata Pokrzeptowciz-Meyer bereits vor zwei Jahren im Gespräch mit der taz, „dass ich einmal in eine so kafkaeske Situation geraten könnte.“ 1992 sei sie als Polnisch-Lektorin nach Deutschland gekommen, habe an der Universität Bielefeld eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin bekommen und dort ihren späteren Mann, Dirk Meyer, kennengelernt. 1996 heirateten sie. Und drei Jahre später kam Moritz zur Welt.

Nach der Scheidung im November 2002 sprach das Gericht der Mutter das Sorgerecht über Moritz zu. Dirk Meyer heiratete erneut. Mit seinem Sohn traf er sich jedes zweite Wochenende. Dann begannen die Schikanen: „Mein Exmann verbot Moritz und mir, Deutschland zu verlassen. Der Junge durfte seine Großeltern in Polen nicht mehr sehen, seine Tante und die beiden Cousins, mit denen er immer gespielt hatte.“ Dann strich die Universität Bielefeld die Slawistik aus dem Lehrangebot. Beata Pokrzeptowicz-Meyer verlor ihre Stelle als Polnisch-Lektorin, fand eine vergleichbare Stelle an ihrer alten Uni in Danzig und stellte beim Jugendamt einen Umzugsantrag. Alles schien glattzugehen. Das Jugendamt stimmte zu. Mutter und Kind packten ihre Sachen. Im letzten Moment legte Dirk Meyer Widerspruch gegen den Umzug ein.

Trotz einer gerichtlichen Anordnung, dass das Kind vorübergehend beim Vater bleiben solle, fuhr die Mutter mit Moritz nach Polen. Dirk Meyer aber, Beamter im Familienministerium Nordrhein-Westfalens, legte es offenbar darauf an, das Sorgerecht übertragen zu bekommen. Statt sich gütlich mit seiner Exfrau zu einigen, stellte er Strafanzeige gegen sie. Sie habe das gemeinsame Kind „entführt“. Seitdem lebte Moritz wieder bei seinem Vater und dessen neuer Frau.

Beata Pokrzeptowicz-Meyer wurde das Sorgerecht aberkannt. Zwar musste sie die Haftstrafe für die Kindesentführung nicht abbüßen, sondern nur eine Geldbuße bezahlen, doch das Familiengericht ordnete nun „begleiteten Umgang“ für Mutter und Kind an. Hier kam das Jugendamt ins Spiel. Eine „Begleitperson“ sollte künftig die Treffen zwischen Mutter und Sohn beaufsichtigen. So sollte eine erneute Entführung verhindert werden.

Der Streit eskalierte, als die zuständige Sozialarbeiterin im Jugendamt Mönchengladbach-Wickrath ein Polnischverbot über Mutter und Kind verhängte. Als die Mutter sich dagegen wehrt und vor Gericht Recht bekommt, das Jugendamt aber bei seinem Polnischverbot bleibt, geht die junge Frau auf die Barrikaden und an die Öffentlichkeit. Sie gibt Interviews, gründet mit anderen betroffenen Eltern den Verein „Eltern gegen die Diskriminierung der Kinder“, klagt sich durch bis zum Bundesverfassungsgericht und verliert immer wieder, da die Gerichte sich meist auf die Expertise der Jugendämter verlassen.

So wendet sich beispielsweise das Oberlandesgericht Düsseldorf an das Jugendamt in Mönchengladbach-Wickrath und fragt, was es denn nun mit diesem seltsamen Polnischverbot auf sich habe. In der offiziellen Antwort vom 17. 11. 2006 heißt es, die Mutter dürfe durchaus „bei ihren Kontakten mit Moritz mit ihm polnisch sprechen“.

Polnischunterricht für den Jungen stelle allerdings „aufgrund des Alters des Kindes … und aufgrund der hochstrittigen Situation zwischen den Eltern … eine Überforderung dar und sollte von daher zurückgestellt werden.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Jugendamt längst eine Kontaktsperre über Mutter und Kind verhängt, ohne dies aber dem Gericht mitzuteilen. In einem internen Papier vom 3. 11. 2006, das der taz vorliegt, heißt es: „Herr Meyer stellte mir das psychologische Gutachten zur Verfügung. Nach Ansicht des Gutachters leidet Frau Pokrzeptrowicz-Meyer unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung.“ Die Sozialarbeiterin und Autorin des Papiers ist überzeugt, dass es der Mutter „nicht um das Wohl des Kindes geht, sondern nur darum, recht zu haben und Recht zu bekommen.“ Dann begründet sie das Polnischverbot. Sie sei es nämlich, die festlege, „dass die Kindesmutter in dem Kontakt mit ihrem Kind deutsch sprechen muss, da ich ansonsten nicht feststellen kann, inwieweit Moritz von seiner Mutter beeinflusst wird“.

Nach einem weiteren Gespräch mit dem Vater sei die Sozialarbeiterin zur Auffassung gekommen, dass es das Beste für Moritz sei, die ihn angeblich belastenden und traumatischen Begegnungen mit der Mutter auszusetzen. „Moritz geht es beim Kindesvater gut“, schreibt sie an ihre Chefin. Seitdem hat Beata Pokrzeptowicz-Meyer ihren kleinen Moritz nicht mehr gesehen.

Auf Nachfrage der taz leugnet der Pressesprecher der Stadt Mönchengladbach das Polnischverbot, räumt allerdings ein: „Grundsätzlich gilt aber, dass beim begleiteten Umgang deutsch gesprochen werden sollte, da die Ausgestaltung des Umgangs mit den Begleitern erarbeitet werden muss, was nur über die Sprache ermöglicht werden kann.

Die junge Polin schüttelt den Kopf: „Darum geht es doch gar nicht. Mutter und Kind treffen sich doch nicht zum Informationsaustausch. Es geht um Gefühle.“ So habe sie Moritz jahrelang zärtlich „synku“ genannt. „Natürlich kann ich das übersetzen und ‚Söhnchen‘ sagen. Aber das klingt doch ganz anders. Und soll Moritz nun zu mir ‚Mutti‘ sagen statt ‚mamusia‘? In Deutschland gibt es keine Möglichkeit, sich gegen Willkürakte des Jugendamtes zur Wehr zu setzen. Das erinnert an die Nazizeit. Das Jugendamt scheint immer noch in dieser Tradition zu stehen.“

Genau dieser Vorwurf aber hat den betroffenen Eltern in Deutschland den Ruf von renitenten Spinnern eingebracht, die nicht weiter ernst zu nehmen seien. Sicher sei das alles sehr tragisch, was sie durchgemacht hätten, heißt es allgemein, doch von Nazimethoden im modernen Deutschland zu sprechen sei ja wohl Unsinn. In Polen ist es genau umgekehrt. Das deutsche Jugendamt gilt inzwischen als Überbleibsel aus der Nazizeit. Wie viele Kinder aus gescheiterten binationalen Ehen tatsächlich betroffen sind, weiß niemand genau. Sind es wirklich nur acht oder zwölf Fälle, wie das Auswärtige Amt zu bagatellisieren versucht? Oder hat Marcin Libicki Recht, der Vorsitzende des Petitionsausschusses des Europäischen Parlaments, der von über 200 Beschwerden gegen das deutsche Jugendamt spricht? Über Willkürmaßnahmen und Diskriminierungen würden sich nicht nur Polen beschweren, sondern auch Franzosen, Belgier, Türken, Amerikaner und zahlreiche Deutsche.

„Ich habe Angst, wenn es klingelt, wenn es klopft, wenn ich Schritte auf der Treppe höre“, bekennt Beata Pokrzeptowicz-Meyer in ihrem Versteck. „Nach dem Buchstaben des Gesetzes habe ich mit der Entführung Unrecht getan. Aber ich bedaure nicht, was ich getan habe. „Millionen Fernsehzuschauer sahen diese Szene in den Hauptnachrichten des polnischen Privatsenders TVN. „Denn mein Kind hat nun die Wahrheit über mich erfahren. Es weiß nun, dass es mich gibt und dass ich es über alles liebe.“

In Mönchengladbach aber sitzt Dirk Meyer im leeren Kinderzimmer von Moritz, blickt auf seine Spielsachen und die Poster an den Wänden. Es sind Klose und Podolski. Deutschpolen – so wie Moritz.