Verfolge den Prozess!

Formvollendete Formlosigkeit: Die No Neck Blues Band aus New York frickelt auf dem höchsten Stand des Klischeevermeidungshandwerks. Nun sind sie mit Embryo auf Deutschlandtour zu entdecken

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Geschrängel. Geklöppel. Die Wunder des Gitarrenhalses. Perkussion ohne Beat. Von Ferne eine Stimme. Plötzlicher Wechsel des Registers: Ein sommerliches Gewitter elektrischer Instrumente verdunkelt kurz das ewig Wiesenhafte dieser endlosen und geradezu beängstigend befreiten Musik. Die Musik der No Neck Blues Band ist, man kann es nicht anders sagen, formlos.

Natürlich ist sie das nicht wirklich. Aber die NNCK, wie sich der lockere und extrem informelle Trupp aus New York abkürzt, entrinnen erfolgreich jeder begrifflichen und konzeptuellen Schließung, jeder Fixierung ihrer Musik, auch der akademischen Idee einer freien und unberechenbaren Improvisation. Denn auch die kann sehr berechenbar klingen. Da, wo solche akademische freie Improv-Musik stets auf dem höchsten Stand des Klischeevermeidungshandwerks frickelt, gönnen sich NNCK auch Momente ruhiger bis stumpfsinniger Rammdösigkeit.

Wer nun denkt, Wörter aus dem Lexikon der Progressive-Rock-Kritik wie Gedaddel oder Gegniedel müssten auf diese Praxis entspannten Endlosigkeitserlebens passen, liegt aber auch falsch. Der daddelnd, gniedelnde Prog-Rocker oder Blueser ist ja gerade deswegen so langweilig oder prätentiös, weil er permanent seine Identität salbt. Den Phallus rauf und den Phallus runter, scheinbar in Bewegung und doch immer am selben Ort.

NNCK dagegen brechen ständig ab und auf. Nicht, um geplante Brüche oder große dramaturgische Effekte in die Welt zu setzen, sondern weil sie’s hörbar nicht aushalten, wenn’s zu identitär wird. Weil sie sich langweilen, wenn Genre ausbricht. Weil sie statische Situationen ebenso perhorreszieren wie zu viel Beherrschung und Virtuosität beim Umgang mit Bewegtem. Im Zweifelsfall bietet endloses Tribal-Getrommel Asyl vor zu viel musikalischer Schlaumeierei.

Vor einigen Jahren gab es in Paris eine Ausstellung, die sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Formlosen und dem Verworfenen, ja dem Ekligen in der Kunst beschäftigte. Objekte, die auf dem Boden ausgestreckt waren, verfehlte Gestalt, Dinge, die Ausscheidungen ähnelten, deren Grenzen verwischten. Dieses Feld zwischen Formverlust, Gestaltdefizit und Abfall, Ausscheidung und Abspaltung spannte in der bildenden Kunst die Diskussion um Abject Art in den Neunzigern auf – nicht in der Musik. Seit Punk werden in regelmäßigen Abständen die Stimmen laut, die die gesunde, knackige Songform gegen alle Arten des Formverlustes, insbesondere die des langen Jam verteidigen und dabei ein nahezu phobisches Abwehrverhalten gegen freie und unabgeschlossene Formen an den Tag legen.

Die Musik der NNCK tritt in zwei Fallen freier Formen nie: Sie wird nicht expressiv, und sie wird nicht atmosphärisch. Weder lässt sich das unübersichtliche Geschehen auf ein eitles oder beschwertes Subjekt – tautologisch – zurückführen, noch wird der Hörerschaft die Meditation oder der Weg nach innen nahe gelegt. Hier bleibt nichts zu tun, als was ein Slogan der deutschen Independent-Kultur mal forderte: Verfolge den Prozess!

Die Anfänge der NNCK lassen sich bis in die frühen Neunziger zurückverfolgen. Die No Neck Blues Band sind seitdem in New York eine Institution einer in der offiziellen Geschichtsschreibung längst ausgestorbenen Alternativkultur. Thurston Moore schätzt sie. Schallplatten erscheinen meist auf Vinyl, privat gepresst und ultraklandestin vertrieben. Und wer nach musikalischen Bezugspunkten fragt, der muss mit leider kargen Antworten zufrieden sein: manche Momente im Frühwerk des Art Ensemble of Chicago (aber ohne jede Afrika-Codierung), der Mittelteil von „Moonchild“ auf der zweiten Seite der ersten King Crimson (die mit dem Mondgesicht), Amon Düül I (aber bei aller Musikverweigerung sehr viel musikalischer) und gewisse Passagen in Grateful-Dead-Auftritten („Space“) wären zu nennen. Doch im Gegensatz zu all diesen aus Zusammenhängen gerissenen Beispielen besteht die NNCK-Musik ausschließlich aus diesen Wunderstellen.

Ihr erstes und bisher einziges Auftauchen aus der Obskurität war eine CD, die exzentrisch in einer Art Zigarrenkiste mit über Klettverschluss befestigten Plexiglasdeckel verpackt war, und die auf John Faheys Revenant-Label erschien, noch zu Lebzeiten dieses anderen großen Meisters endloser Musik, produziert von dem Folkster-Freigeist Jerry Yester: „Sticks and Stones May Break My Bones, But Names Will Never Hurt Me“.

Vorübergehend wurden NNCK vom Alternativ-Musik-Establishment wahrgenommen. Doch hat sich das wieder gegeben. Nun sind sie in ausgewählten alternativen und autonomen Orten in Deutschland unterwegs, zusammen mit Embryo, die übrigens nur deswegen nicht so legendär wie Faust, Amon Düül und The Can sind, weil sie nie nicht existierten.

Leipzig: 15. 6., 21 h, „Lichtwirtschaft“, Stockartstr.11; Berlin: 16. 6, 21 h, „Supamolli“, Jessnerstr. 41; 17. 6., 21 h „Regenbogenfabrik“, Lausitzer Str. 22