Eine Mauer auf fremdem Boden

Inoffiziell sollen bis zu700 Kilometer geplant sein – beinahe die doppelte Länge der alten Grenze

aus Mas’cha SUSANNE KNAUL

Die 30 Israelis, Palästinenser, Amerikaner und Europäer sehen aus wie Ausflügler. Mit Sonnenhüten, Wasserflaschen und Rucksäcken ausgestattet, lauschen sie dem Vortrag ihres „Tourguide“. Nasih Schalabi aus Mas’cha, einem Ort 30 Kilometer östlich von Tel Aviv, erklärt in gebrochenem Englisch seine Situation und die seines Dorfes. Das wird dieser Tage von einer hässlichen Grenzanlage durchtrennt. Dem 35-jährigen Palästinenser, Vater von sieben Kindern, wird im Namen der Sicherheit israelischer Bürger gerade die letzte Möglichkeit genommen, seine Familie zu ernähren.

Er klopft sich den Staub von seiner abgetragenen Jeans, zündet eine Zigarette an und deutet auf drei Dörfer zu Füßen des Hügels, auf dem er steht: „Elkana, Etz Efraim und Schaarej Hatikwa, das sind die jüdischen Siedlungen, deretwegen unser Dorf geteilt wird.“ Kaum fünf Prozent ihres Landes bleiben den Palästinensern von Mas’cha, wenn der Bau der Grenzanlagen zwischen Israel und den Palästinensergebieten in wenigen Wochen abgeschlossen sein wird.

Seit Generationen lebt Nasih Schalabis Familie in Mas’cha. Schon seinen Eltern wurde Land genommen, um Häuser für die neuen jüdischen Nachbarn zu bauen. Nun muss er zusehen, wie unmittelbar vor seinem Dorf ein breiter Betonstreifen für die Mauer gegossen wird, zu der parallel auf beiden Seiten bereits die Zäune aus Stacheldraht verlaufen. Auf „israelischer“ Seite betonieren die Bauarbeiter zusätzlich eine schmale Straße für Militärpatrouillen. Die Bulldozer brechen durch die karge Hügellandschaft, reißen hier und dort einen Olivenbaum oder ein paar Büsche aus. Sie halten sich strikt an die vom Verteidigungsministerium vorgegebene Route, egal, was im Weg steht. Zurück bleiben Geröllhaufen und die Anlage, die Erinnerungen an die einstige Mauer zwischen Ost- und Westberlin weckt. In Mas’cha leben augenscheinlich ganz gefährliche Palästinenser, denn hier werden die Trennanlagen in der größtmöglichen Breite von 80 Metern errichtet, während andernorts nur eine hohe Mauer steht. „210.000 Palästinenser aus 67 Dörfern und Städten“ sind, einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Betselem zufolge, schon in der ersten Bauphase unmittelbar betroffen. Sei es, dass sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind und Arbeitsmöglichkeiten einbüßen, sei es, dass Straßen, Wasser- und Stromleitungen zerstört wurden oder dass ihr Land enteignet wurde.

Im Juni 2002 griff Premierminister Ariel Scharon die Idee seines sozialistischen Amtsvorgängers Ehud Barak auf und machte die Errichtung von Trennanlagen zwischen dem israelischen Kernland und den palästinensischen Gebieten zum Regierungsprogramm. Gräben, Zäune, Mauern und elektronische Überwachungsanlagen für die Sicherheit der israelischen Bürger. Die Entscheidung erschien zu diesem Zeitpunkt angesichts zunehmender Gewalt und palästinensischer Selbstmordanschläge logisch. Scharons Militärfeldzug gegen den Terror hatte sich als wirkungslos erwiesen, und die Verhandlungen mit den Palästinensern steckten in einer Sackgasse.

Die Befürworter von Trennanlagen argumentierten mit dem Beispiel des Gaza-Streifens. Seit Beginn der Al-Aksa-Intifada, Ende September 2000, war es nicht einem einzigen palästinensischen Selbstmordattentäter gelungen, sich aus diesem vom Umland hermetisch abgeschotteten Landstreifen den Weg nach Tel Aviv oder Jerusalem zu bahnen.

Die militanten Extremisten hinter den Trennanlagen sind für die Bürger im Kernland keine unmittelbare Bedrohung, sieht man von den Al-Kassem-Raketen ab, die regelmäßig über den Zaun geschossen werden, ohne jedoch ernstlich Schaden anzurichten. Wäre der Bau der Trennanlagen um das Westjordanland rechtzeitig vorangetrieben worden, „könnten heute 500 bis 600 Israelis noch am Leben sein“, wetterte erst kürzlich Ehud Barak.

„Wir sind zwei Völker“, räumt Nasih Schalabi ein, „das heißt aber nicht, dass wir nicht friedlich zusammenleben können.“ Was hier passiert, schüre nur die Frustration der Palästinenser. Kaum fünf Kilometer von Mas’cha entfernt liegt, unmittelbar hinter einer jüdischen Siedlung, das Dorf Saniria. „Dort lebt die Familie meiner Frau“, sagt Nasih Schalabi. Wenn in einer zweiten Bauphase eine zusätzliche Trennanlage errichtet wird, „werden wir unsere Verwandten nicht mehr besuchen können“. Dass eine zweite Mauer um mehrere größere jüdische Siedlungen geplant ist, entnimmt Nasih Schalabi den Enteignungsverordnungen, die den Bauern in der Region zugestellt wurden. Offizielles Kartenmaterial gibt es nicht.

Die ersten Jahre nach dem Osloer Abkommen vom Herbst 1993 waren für die Leute von Mas’cha wirtschaftlich die fruchtbarsten. An jedem Wochenende strömten Tausende Israelis zum Markt ins Nachbardorf Bidia, um dort einzukaufen. Mit den dortigen Preisen für Wasserhähne, Möbel, Spielzeug, Geschirr und Kleidung konnten die israelischen Läden nicht mithalten. Auf Wunsch fertigten Kunstschmiede Gartenstühle oder Türklinken, und der Polsterer nebenan lieferte die passenden Kissen dazu.

Dass der Terror bereits wenige Monate nach Oslo neue, noch schlimmere Formen annahm, hielt die Israelis nicht vom Einkaufsbummel im Palästinensergebiet ab. Als in Afula und Tel Aviv die ersten Busse in die Luft flogen, funktionierte in Bidia die friedliche Koexistenz weiter. Die Leute aus Mas’cha genossen die kurzen Wege zum Käufer ihrer handwerklichen und landwirtschaftlichen Produkte, bis mit Beginn der Intifada die Kundschaft schließlich doch fast komplett wegblieb. Nasih Schalabi baute trotzdem weiter Weizen und Hülsenfrüchte an, pflegte seine Olivenbäume. Er schlug sich so durch, bis vor gut drei Monaten die israelischen Bulldozer Mas’cha erreichten. „Ich kann seither nur noch zu Fuß auf meine Felder“, sagt er. „Ohne Traktor bin ich aber aufgeschmissen. Jetzt bleiben mir nur noch die Oliven.“ In zwei Wochen sollen die Trennanlagen fertig sein. Wenn Nasih Schalabi dann zu seinen Bäumen will, wird er eine Sondergenehmigung brauchen. Besonders bedrohlich für die Bauern könnte ein Gesetz werden, das noch aus türkischer Besatzungszeit stammt: Wenn ein Bauer drei Jahre lang sein Land nicht bebaut, verliert er es.

Die Entscheidung für die Mauer erschien angesichts der Selbstmordanschläge durchaus logisch

Nur bei Dschenin, Tulkarem und Kalkilja verläuft die Trennlinie dort, wo die Politiker, die die Idee von Grenzanlagen zuerst aufbrachten, sie vorsahen: entlang der Grenze von 1967, dort, wo die Besatzung anfängt. Parallel zu diesen drei Teilstücken entsteht jedoch eine zweite Trennlinie, bei Kalkilja zusätzlich eine dritte, die die Bevölkerung komplett einschließt und bis zu zehn Kilometer in das palästinensische Land hineinreicht. So auch bei Mas’cha, wo der Zaun nur wenige Meter vom ersten Haus entfernt verläuft. Wie ein Band schlängelt sich die Trennschneise um die jüdischen Siedlungen, die – sollte die Grenze endgültig sein – problemlos Israel angegliedert werden könnten. Damit sind die düstersten Prognosen palästinensischer Kritiker, die schon zu Beginn des ersten Mauerbaus die zusätzliche Annektierung ihres Landes und ihre fortgesetzte Isolierung befürchtet hatten, eingetreten.

Auch die israelischen Sozialisten hatten sich das so nicht vorgestellt. Kein geringerer als Ex-Premierminister Schimon Peres wetterte kürzlich gegen die geplante Annektierung von „22 Prozent“ palästinensischen Landes. Im Parlament wurde zwar grundsätzlich die Errichtung von Trennanlagen debattiert, hinsichtlich der Umsetzung habe die Regierung die Abgeordneten aber gezielt falsch informiert, klagt die Meretz-Abgeordnete Sahava Galon. „Zwischen der Karte, die uns Scharon vor einem Jahr vorgelegt, und der, die Betselem veröffentlicht hat, besteht ein riesiger Unterschied.“ Galon verurteilt die „schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen“, dennoch wird eine erste Delegation ihrer Partei erst in zwei Wochen eine Visite zu Mauern und Zäunen unternehmen.

Die erste Bauphase umfasst 145 Kilometer Trennanlagen. Kostenpunkt laut Verteidigungsministerium: 10 Millionen Schekel (zwei Millionen Euro) pro Kilometer. Zögen sich Zäune und Mauern entlang der grünen Grenze, hätte „mindestens ein Drittel“ gespart werden können, schätzt Jecheskiel Lein, Mitarbeiter von Betselem. Eine lange Grenze ist zudem personalaufwendiger und schwerer zu bewachen. Der Aspekt der Sicherheit für israelische Bürger gab also wohl kaum den Ausschlag für den Bauplan. Inoffiziellen Informationen zufolge sind insgesamt bis zu 700 Kilometer geplant – beinahe die doppelte Länge der alten Grenze.

Israels Öffentlichkeit reagiert mit Zustimmung auf die geplante Errichtung der Trennanlage. Denn damit würden sich nicht zuletzt massive Militärinvasionen, Ausgangssperren und Blockaden erübrigen. Für die Umsetzung interessierte sich dann indes niemand mehr, abgesehen von einer kleinen Gruppe Friedensaktivisten, die vor einigen Wochen bei Mas’cha ein Protestcamp errichteten. Zusammen mit den Leuten aus dem Dorf errichteten sie Fotowände, die den Bau der Trennanlage dokumentieren. Große Hoffnung setzt Nasih Schalabi in seine Arbeit mit den Friedensaktivisten indes nicht mehr. Der „schleichende Transfer der Palästinenser“ habe schon begonnen. Aus Kalkilja seien bereits 5.000 Familien weggezogen, um andernorts Arbeit zu suchen. Für Nasih Schalabi ist das keine Option. „Selbst wenn ich den Staub vor meinem Haus essen muss, ich gehe von hier nicht weg.“