Doppelte Qualen im Dienste der Wissenschaft

Mascha und Dascha, die bekanntesten siamesischen Zwillinge der Sowjetunion, starben kürzlich in Moskau

MOSKAU taz ■ Die letzten Jahre verbrachten Mascha und Dascha in für sie ungeahntem Luxus: Ihr Reich umfasste 25 Quadratmeter, hatte eine Toilette, Dusche und ein Telefon. Als die beiden Schwestern im Winter 1950 das Licht der Welt erblickten, hätte es Menschen wie sie nach dem Verständnis der Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurden, gar nicht geben dürfen. Die Sowjetgesellschaft Stalins war auf der Suche nach dem neuen Typ Mensch, einem reibungslos funktionierenden Bestarbeiter.

Mascha und Dascha indes waren an der Hüfte zusammengewachsene siamesische Zwillinge mit drei Beinen. Jede besaß eine eigene Wirbelsäule, ein unabhängiges Nervensystem und ein eigenes Herz. Blutkreislauf, Fortpflanzungsorgane und Blase mussten sie sich teilen.

Die Schwestern waren die bekanntesten siamesischen Zwillinge der Sowjetunion. Ihre Geschichte ist ein unsäglicher Leidensweg. Sie kam Ende der 80er-Jahre ans Licht. Ihre Mutter haben die Frauen nie gesehen. Nach der Geburt wurden die Zwillinge der 35-jährigen Bäuerin weggenommen. Als diese ihre Töchter suchte, hieß es: Sie hätte „Monster“ geboren, die gestorben seien. Der Vater war froh, sich der Kinder entledigen zu können. Ihn hätte die Behinderung seiner Töchter als Chauffeur Lawrentia Berijas, des Geheimdienstchefs und Henkers Josef Stalins, den Job gekostet.

Die ersten sechs Jahre vegetierten die Mädchen im Versuchslabor des damals führenden sowjetischen Physiologen und Hirnforschers Professor Pjotr Anochin dahin. Dort missbrauchte man sie als Versuchskaninchen, die von ihrer Umgebung keine menschliche Regung zu erwarten hatten. Versuchsabläufe und Erkenntnisinteresse waren immer identisch: Wie reagiert der Körper des einen Zwillings, sobald dem anderen Schmerzen zugefügt werden. Mascha wurde in Eis gepackt, um zu sehen, wie die Temperatur der anderen fiel. Oder umgekehrt: Man gab ihnen Flaschen mit kochend heißem Wasser in die Hand. Selbst vor der Intimsphäre machten die Humaningenieure nicht Halt. Wer welchen Unterteil des Körpers kontrolliert, stellten sie durch Stechen in empfindliche Köperteile fest. Oder sie testeten physiologische und psychische Veränderungen. Wie regiert ein hungriger Zwilling, wenn der andere essen darf? Als sie den Kindern Spritzen mit Jod verabreichten, stellten sie fest, dass beide Schilddrüsen ähnlich reagierten. Mit diesem Test sollte herausgefunden werden, wie die Organe miteinander kommunizieren. In ihrem Wunsch, allein zu sein, schlagen sich die Mädchen: Was sie auch anstellen, sie gehören zusammen. Die Ärzte schauten zu, niemand kam auf die Idee, ihnen das Problem zu erklären.

Nach sechs Jahren verlassen sie das Labor, ohne laufen oder selbstständig essen zu können. „Jetzt begann für uns das Leben“, meinte Dascha. Was für ein Leben in einer Gesellschaft, die Behinderte wie Aussätzige behandelt. Aus Verzweiflung griff Dascha in den letzten Jahren zur Flasche. Auch Mascha verfiel wegen des gemeinsamen Blutkreislaufs dem Wodka. Im April starben beide, erst Mascha, dann Dascha. KLAUS-HELGE DONATH