Der Tod kam in Sekundenschnelle

Die Überschwemmungen nach den schweren Regenfällen in Haiti und der Dominikanischen Republik fordern tausende Menschenleben. Die Nothilfe ist überfordert, die Menschen müssen sich selbst helfen. Noch sind viele Gegenden unzugänglich

AUS SANTO DOMINGO HANS-ULRICH DILLMANN

Hispaniola trägt Trauer. Die Menschen auf der zweitgrößten Karibikinsel, die sich die Dominikanische Republik und Haiti teilen, beklagen den Tod von fast 2.000 Menschen auf beiden Seiten der insgesamt 360 Kilometer langen Grenze. Anhaltende Regenfälle und Schlammfluten haben in weiten Teilen beider Länder Uferlandschaften und die Umgebung von Flussläufen unter Wasser gesetzt. In der schwer zugänglichen haitianischen Stadt Mapou im Südosten des Landes waren am Mittwoch nach Angaben der Agentur Reuters etwa 1.000 Leichen gefunden worden. Nördlich der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince verschwand ein ganzes Dorf in den Schlammfluten. 158 Todesopfer sind zu beklagen. In der Umgebung der im Süden gelegenen Hafenstadt Jacmel starben knapp 200 Menschen. In einer anderen Ortschaft wurden am Mittwoch nach Informationen des Radiosenders „Metropole“ aus den Schlammmassen etwa 300 Leichen ausgegraben und in Massengräbern beigesetzt. Die Zahl der Opfer dürfte sich in den nächsten Tagen noch erhöhen, da einige Gebiete nach wie vor nicht gut zugänglich sind.

Grauenvolle Szenen spielen sich in dem kleinen Grenzort Jímani im Südwesten der Dominikanischen Republik ab. Menschen starren mit ungläubigem Entsetzen auf Helfer des Katastrophenschutzes und Soldaten, die mit bloßen Händen und nur wenigen technischen Hilfsmitteln aus den braunglitschigen Fluten leichenstarre Familienangehörige graben. Die Reste von fragilen Bretterbuden und aus Lehm und Stroh konstruierten Hütten müssen abgetragen werden, um nach weiteren Leichen zu suchen.

Im Krankenhaus des Ortes sind die Toten zusammengetragen, damit sie von ihren Familienangehörigen identifiziert werden können. Ein Haufen schlammbedeckter Leichname – und immer wieder werden neue angeliefert. Dazwischen Überlebende, die verzweifelt nach anderen Familienangehörigen suchen oder wenigstens wissen wollen, ob sie deren Leichen zwischen den Aufgebahrten finden und beerdigen können.

Ein ganzes Stadtviertel wurde in dem Grenzort zerstört, der rund 250 Kilometer von der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo entfernt ist. Etwa 13.000 Menschen haben kein Obdach mehr. Eine Frau irrt durch die Straßen, um nach ihren Kindern zu fragen, die sie seit der Unglücksnacht nicht wieder gesehen hat. Sie habe überall nach ihren vier Kindern gesucht, schreit sie verzweifelt, sie habe überall in den Schlammmassen und Schutthalden gewühlt. „Ich habe sie nicht gefunden“, sagt die Frau schluchzend.

Normalerweise ist das Flussbett des Rio Blanco, des „Weißen Flusses“, eine öde weiße Steingeröllwüste, die Grenzregion insgesamt unwirtlich. Die unzähligen Hügelchen und Erhebungen im „Land des Berge“, so nannten es schon die Ureinwohner, sind weitgehend abgeholzt, der ehemalige Baumbestand ist zu Holzkohle verkohlt worden. Die Menschen hier leben von der Hand in den Mund und dem wenigen, was der ausgemergelte Boden hergibt.

Seit Tagen hatte es in dem sonst völlig trockenen Gebiet sintflutartig geregnet. Erst stieg das Wasserniveau langsam an. Die Menschen machten sich keine großen Sorgen. Niemand warnte sie, dass die Talsperren in den weit entfernt liegenden Zentralkordilleren fast überliefen und kontrolliert geleert wurden. Der Tod kam in der Nacht zum Montag in Sekundenschnelle, als sich die Menschen längst zum Schlaf niedergelegt hatten. Den Großteil der Häuser hat der Fluss mit sich gerissen, mit allem, was darin war, Erwachsene ebenso wie Kleinkinder. Die kleinen Läden wurden zerstört, die Waren, vor allem Grundnahrungsmittel, verschwanden in den Fluten.

Ein Mann konnte sich retten, weil er das Ansteigen des Flusses bemerkte, der seit zehn Jahren kein Wasser mehr geführt hatte. Er alarmierte Nachbarn und rettete so wenigstens einige Menschenleben. „Seit ungefähr zwei Uhr nachts kam der Fluss von den Bergen und um ungefähr fünf Uhr morgens dann die Flut“, sagt der Mann, der seit drei Tagen kaum geschlafen hat.

Es fehlt an allem. Hilfsgüter und Rettungsgerät in die Region zu schaffen, ist schwierig. Hubschrauber und Hilfsflugzeuge können auf den wenigen vorhandenen, aber überschwemmten Rollbahnen nicht landen. Lkws brauchen Stunden auf den heillos verstopften Straßen.

Der Direktor der dominikanischen Katastrophenhilfe Radhamés Lora Salcedo ist völlig hilflos. Statt groß angelegte Hilfsmaßnahmen zu koordinieren, hat er an die Menschen im Land appelliert, sich selbst zu helfen: „Wir haben die Menschen, die ihre Häuser verloren haben, aufgefordert, dass sie sich nach einem Familienangehörigen, nach einem Freund, nach einem Nachbarn, einer solidarischen Person umschauen sollen, die ihnen helfen. Unsere Notunterkünfte sind mangelhaft und es fehlt dort an allem, es gibt nichts, auch keine Sanitäranlagen.“