Interview mit Charlie Chaplins Tochter: "Es ging sehr formal zu bei uns"

Charlie Chaplin guckte kein Fernsehen, ging kaum ins Kino und wollte keine Jeans sehen. Ein Gespräch mit seiner Tochter Geraldine Chaplin anlässlich einer Retrospektive in Berlin.

"Ich bin durch die Hölle gegangen mit ihm", sagt Geraldine Chaplin über ihren Vater Charlie. Bild: dapd

taz: Frau Chaplin, als Sie mit 8 Jahren bei "Limelight" mitspielten, war Ihnen damals klar, was Sie tun?

Geraldine Chaplin: Ich kann mich nicht mal daran erinnern, dass da überhaupt Kameras standen. Ich freute mich nur, weil wir nicht zur Schule mussten und lustige Sachen anziehen durften … Ich hatte aber schon jede Menge Filme gesehen, weil meine Mutter uns andauernd die Werke meines Vaters zeigte, zuhause, in unserem Vorführraum. Das erste, was ich im Kino sah, war "Quo Vadis". Da dachten wir: Oh, das sind also richtige Filme, nicht diese schwarz-weißen mit Daddy drin … es gibt Farbe, und Löwen, und Christen! Daddys Zeug ist Mist!

Hatten Sie einen Fernseher?

Nein, erst nachdem Kennedy ermordet wurde. Mein Vater wollte nie einen. Aber nachdem diese ganzen Dinge direkt vor laufender Kamera passierten, kaufte er ein Gerät. Wir schauten aber trotzdem nicht viel, meist erst abends, zu den Nachrichten, oder bei Sportveranstaltungen. Ich bin ja in der Schweiz aufgewachsen, nicht in den USA, wo der Fernseher oft den ganzen Tag läuft. Jetzt bin ich allerdings ein Newsfreak.

Ist Ihr Vater in den 50ern und 60ern ins Kino gegangen, um zu gucken, was die anderen machen?

Sehr selten, bevor er "The King of New York" machte, schaute er sich als Casting für bestimmte Schauspielerinnen ein paar Filme an. Ich weiß noch, dass er den Horrorfilm "Village of the Damned" unglaublich gut fand. Aber ansonsten ging er nicht ins Kino, nicht mal in Filme, die einen Oscar bekommen hatten. In seinen 70ern wurde Daddy vom Life-Magazine mal gefragt, ob er "Who's Afraid of Virginia Woolf?" gesehen hatte, und er sagte: Ja! Aber ich mochte ihn überhaupt nicht, denn er ist nicht realistisch. Die beiden hören sich ja gegenseitig zu!

Komödien haben ihn auch nicht interessiert?

Nein. Er hat manchmal Western im Fernsehen geguckt, wegen unseres Wohnorts mit französischer Synchronisation, er saß dann immer im Wohnzimmer, schaute schlecht gelaunt in das Gerät, und sagte "Il est mort!", kurz bevor der Schauspieler das sagte. Mein Vater dachte einfach: Meine eigenen Filme sind besser. Stimmte ja auch. Ich weiß noch, dass Marlon Brando aus Los Angeles zu uns in die Schweiz geflogen kam, weil er gern mit Daddy arbeiten wollte. Mein Vater war so beeindruckt, dass er ihm die Hauptrolle in seinem letzten Film "A Countess from Hong Kong" gab, die er eigentlich für meinen Bruder Sydney geschrieben hatte! Er sagte zu Sydney: Guck dir das an, Marlon Brando fliegt extra her, und du hängst hier nur herum.

Hat Ihr Vater je mit Ihnen oder Ihren Geschwistern über seine Arbeit geredet?

Nie. Er hat immer alles für sich behalten. Permanent gegrübelt, erschaffen und geändert. Bei "A Countess from Hong Kong" hat er sich sehr viele Sorgen darüber gemacht, ob der Film ein Erfolg wird, er hat mal gesagt, dass er am grausamsten findet, wenn das Publikum einfach nicht hingeht. Dieses Desinteresse hat ihn fertiggemacht. Er hatte zu diesem Zeitpunkt nicht sehr viel Vertrauen in sich.

Hat er Ihre Mutter Oona ebenfalls aus seiner Gedankenwelt ausgeschlossen?

Nein, sie war die Einzige, deren Meinung er respektierte und einforderte. Als er seine Autobiografie schrieb, kam er wie ein kleiner Junge immer mit neuen Seiten rein und bat sie, alles mit ihm durchzugehen. Meine Mutter war sehr belesen und eloquent, und sagte ihm, was ihr nicht gefiel. Er wurde dann furchtbar sauer, aber änderte alles so, wie sie es vorgeschlagen hatte.

wurde 1944 als Tochter von Charlie Chaplin und Oona O'Neill in Kalifornien geboren und wuchs zusammen mit ihren Eltern und sieben jüngeren Geschwistern in der Schweiz auf. Nach einer Tänzerinnenausbildung begann sie 1965 in David Leans "Dr. Schiwago", professionell als Schauspielerin zu arbeiten. Zwischen 1967 und 1975 war sie mit dem spanischen Regisseur Carlos Saura liiert, in dessen Filmen sie ebenfalls mitspielte, mit ihm hat sie einen Sohn. Mit dem chilenischen Kameramann Patricio Castilla hat sie eine Tochter. Beim Interview im Adlon trug sie Totenkopfring, Totenkopftasche und Totenkopfschuhe und mutmaßte, dass ihre Tochter, von der die Accessoires stammen, vielleicht auf ihr Erbe spekuliert.

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Ihre Mutter war sehr jung, als sie Ihren Vater kennen lernte …

Ja, sie war 17, er war über 50. Ich glaube, sie hat sich einfach wahnsinnig verliebt. Sie hat ihm ihr ganzes Leben gewidmet, wie das von Frauen in den 50ern erwartet wurde.

Aber dann kamen die 60er, die Frauenbewegung, und später Filme wie "Stepford Wives" …

Ja, in diese Filme ist sie auf jeden Fall auch heimlich gegangen, sie war totaler Filmfan. Aber an ihrem eigenen Leben wollte sie nichts ändern. Ich weiß noch, dass wir in den 60ern am Flughafen mal einen Araber mit mehreren Frauen gesehen haben, die Ganzkörperschleier trugen. Ich sagte zu meiner Mutter: Oh mein Gott, ich kann die Frauenbewegung so gut verstehen! Und sie sagte: Es muss doch herrlich sein, in einem goldenen Käfig zu leben! Dass mein Vater starb, hat sie ihm nie verziehen, sie ist an einem gebrochenen Herzen gestorben. Sie hatte es nach seinem Tod versucht, hat sich einen Freund gesucht, ein Apartment in New York gekauft. Aber sie hat immer wieder alle mit ihm verglichen.

Woher kam die Antriebskraft Ihres Vaters?

Das war einfach eine sehr starke Kreativität, in jedem künstlerischen Bereich. Er konnte alle Instrumente spielen, aus einem musikalischen Instinkt heraus. Obwohl er keine Noten schrieb, komponierte er am Klavier und nahm das dann auf Kassette auf. Er wollte alles selbst machen. Und die Kamera übernahm er nur nicht, weil er nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnte.

Ihr Vater wurde 1889 geboren, in einem anderen Jahrhundert.

Ja, im Viktorianischen Zeitalter. Er sagte immer, er habe alles von seiner Mutter gelernt, sie habe für ihn Leute auf der Straße imitiert. Sie wurde verrückt, mit Mitte 30, aufgrund einer Syphiliserkrankung. Sein Vater ist ziemlich früh als Alkoholiker gestorben. Dass seine Mutter drei Kinder von drei verschiedenen Männern hatte, fand mein Vater skandalös. Er glaubte an Disziplin und eine altmodische Art von Anständigkeit.

Sprach er über seine Familie?

Er hat uns viele lustige Geschichten über seine Mutter erzählt und sozusagen ganz sanft klargemacht, dass sie verrückt ist. Zum Beispiel reiste sie einmal mit ihm per Schiff in die USA, und am Hafen von New York warteten eine Menge Charlie-Chaplin-Fans. Ein Mann sagte zu ihr: Ach so, Sie sind die Mutter von Charlie Chaplin! Und sie antwortete ganz ernst: Und Sie sind Jesus Christus. Wir lachten uns immer kaputt! Erst als wir seine Autobiografie lasen, begriffen wir, dass sie wirklich verrückt war.

Wieso konnte er nicht darüber reden, es aber aufschreiben?

Er war sehr prüde. Das passt auch zu der Tatsache, dass die Preise, die er bekam, ihm zwar viel bedeuteten. Doch das Wichtigste war, von der Queen zum Ritter geschlagen zu werden. Lange vor den Beatles. Die und die Jeans demokratisierten ja alles. Bei uns zuhause waren Jeans natürlich verboten! Meine Mutter zog sich jeden Abend ein langes Kleid zum Essen an. Es ging sehr formal zu bei uns.

Stammt diese Traurigkeit, die ihn begleitete, auch aus seiner Vergangenheit?

Ja, und er war der Erste, der Pathos und Romantik mit Slapstick vermischte. In diesen Zeiten wurden Komödien und Tragödien mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten gefilmt. Er kombinierte aber beide in "The Kid". In diesem anarchistischen, unglücklichen kleinen Tramp, der auf Schönheit und Liebe reagierte. Und mein Vater war der Erste, der soziale und politische Kritik in einer Komödie unterbrachte, wie bei "The Immigrant", 1917. Er wurde dann immer mutiger. Dass er "The Great Dictator" mit eigenem Geld machte, ist auch typisch, denn die USA waren damals profaschistisch. England wollte den Film gar nicht erst zeigen. Dann kam er aber während des Blitzkriegs heraus und war ein unglaublicher Erfolg.

Hat Ihr Vater mit seiner Figur und seinem Outfit bewusst ein Logo erschaffen?

Nein, das war eher zufällig. Man sieht die Entwicklung anhand der Filme. Am Anfang fehlt beispielsweise noch der Schnurrbart. Er hat eher auf die Öffentlichkeit reagiert, die diese Figur mochte. Diesen Tramp, der eigentlich ein gefallener Aristokrat ist, wie mein Vater, der ja auch in bourgeoise Verhältnisse hineingeboren worden war, bevor alles zusammenbrach.

Haben Sie nie die Nase voll von Chaplin?

Noch nicht, und ich bin schon 67. Wenn ich ihn ständig verteidigen müsste, wäre ich bestimmt genervt, aber so nicht.

Aber Sie haben doch in der Pubertät bestimmt rebelliert?

Ja, es gab Zeiten, da konnte ich ihn nicht ertragen! Als ich 14 war und keinen Lippenstift tragen durfte. Wir wollten in den Zirkus gehen, und er verbot mir mitzukommen. Ich hab mich dann abgeschminkt. Mit ungefähr 19 war das vorbei. Ich kann mich genau erinnern: Ich war in den Schulferien zuhause, wie immer beachtete Daddy mich kaum. Wir saßen beim Abendbrot. Ich hatte keinen Hunger, und plötzlich sagte er ganz mitfühlend: Willst du gar nichts essen? Und ich fing an zu heulen wie ein Schlosshund, weil er wieder mit mir sprach. Ich bin wirklich durch die Hölle gegangen mit ihm.

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