Die vergessene Schlacht

In der Nacht zum 8. Mai 1954 unterlag die französische Armee der vietnamesischen Befreiungsbewegung. Eine Erinnerung an den ersten großen Entkolonialisierungskrieg

VON RUDOLF WALTHER

Die Behauptung, dass im Mai 1945 für die europäischen Staaten die Nachkriegs- oder gar Friedenszeit begonnen hätte, trifft auf Frankreich nicht zu. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs war das Land – das formell zu den Siegern gehörte – gleich an mehreren Punkten der Welt in unerbittliche kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt: Beim Aufstand in Sétif (Algerien) starben am 8. Mai 1945 300 Franzosen und rund 10.000 Algerier; beim Bombardement der Stadt Haiphong in Tonking (Nordvietnam), das am 23. November 1946 den Krieg in Indochina eröffnete, kamen 6.000 Vietnamesen um; die Rebellion in Madagaskar am 30. März 1947 kostete 80.000 Menschen das Leben. Im Vergleich mit der Blutspur, die die britische Entkolonialisierung hinterließ, verursachte die französische einen Blutstrom, der anderen Kolonialmächten eine Warnung war.

Die Kolonialkriege, abgesehen vom Algerienkrieg, sind in Frankreich verdrängt und vergessen worden. Zum fünfzigsten Jahrestag der französischen Niederlage gegen die vietnamesische Befreiungsbewegung in Dien Bien Phu am 7./8. Mai 1954 sucht man in französischen Buchläden vergeblich nach neuerer Literatur oder Wiederauflagen älterer Darstellungen. Ein ähnliches Bild bieten Fachzeitschriften und Tagespresse. Die wahre Dimension des Indochinakriegs ist in Frankreich nur einer Minderheit bewusst.

Einzig die heroisch untermalten Erinnerungsbücher und Fotobände der Veteranen aus den Fünfzigern sind bis heute lieferbar und erzielen hohe Auflagen. In dieser Veteranenprosa werden jedoch die wahren Ursachen der Katastrophe kaschiert und die Verantwortung für das militärische und politische Debakel notorisch „den“ Politikern der Vierten Republik (1947–1958) angelastet. Westlicher Dünkel und handwerkliche Stümperei der Militärs, die die Niederlage verursachten, bleiben tabu.

Die koloniale Eroberung der Länder Vietnam, Laos und Kambodscha, für die die Franzosen den Ausdruck „Indochina“ prägten, begann in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts unter Napoleon III. im Süden Vietnams. Bis zur Kapitulation Frankreichs im Zweiten Weltkrieg (Juni 1940) war Indochina eine reiche Kolonie und obendrein die einzige, von der das Mutterland profitierte. Danach entwaffneten die Japaner die französische Kolonialarmee, bis sie 1945 nach Nagasaki und Hiroshima kapitulierten.

Am 2. September 1945 nutzte der Nationalrevolutionär Ho Chi Minh („der Erheller“) den günstigen Moment und rief die Demokratische Republik Vietnam aus. Kaiser Bao-Dai dankte ab und ging ins Exil. Ho Chi Minh stützte sich auf die 1941 gegründete nationalrevolutionäre Bewegung Viet-Minh, die zunächst keine kommunistischen Ziele verfolgte, sondern eine antifeudale Landreform für das zu 95 Prozent aus Bauern bestehende Land. Die politische Lage war diffus: Im Süden Vietnams teilten sich französische und britische Truppen die Herrschaft, der Norden stand unter dem Einfluss der nationalchinesischen Regierung Chiang Kai-Sheks.

Frankreich betrieb eine zwiespältige Politik. In Paris verhandelte die Regierung im Februar 1946 mit Ho Chi Minh. Der erreichte die Anerkennung eines selbstständigen Vietnam im Rahmen des kolonialen Daches der „Französischen Union“. In Südvietnam dagegen betrieb der französische Gouverneur Thierry d’Argenlieu auf eigene Faust Politik und proklamierte am 1. Juni 1946 die selbstständige Republik Cochinchina, die Südvietnam, Laos und Kambodscha umfasste. Gegen den Willen Ho Chi Minhs setzte Frankreich durch, dass französische Truppen Vietnam kontrollieren sollten. Der Viet-Minh provozierte mit einem Angriff auf französische Schiffe im Hafen von Haiphong am 23. November 1946 eine erste militärische Konfrontation. Knapp einen Monat später, am 19. Dezember 1946, bot ein Sabotageakt des Viet-Minh auf das Elektrizitätswerk in Hanoi den französischen Truppen den Vorwand für ein Massaker, bei dem 6.000 Vietnamesen umkamen. Ho Chi Minh und seine Regierung flohen aufs Land, der militärische Chef des Viet-Minh – der legendäre General Vo Nguyen Giap – rief zum Guerillakrieg auf.

Das war der Beginn eines dreißig Jahre dauernden Befreiungskrieges, den französische, später auch amerikanische Politiker als lokalen Aufstand missverstanden. Frankreich mobilisierte eine 130.000 Mann starke Truppe unter dem beschönigenden Namen „Expeditionskorps“, die das Land mit einer „Polizeiaktion“ bzw. „Befriedungsmission“ ordnen sollte, wie es im Jargon der Pariser Regierung und der Presse hieß. Angesichts des Kalten Krieges zwischen den Supermächten und des Koreakrieges geriet der vietnamesische Befreiungs- bzw. Kolonialkrieg in die Blockkonfrontation zwischen „Kommunismus“ und „freier Welt“. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker engagierten sich die USA finanziell, sie übernahmen achtzig Prozent der Kosten (3,6 Milliarden Dollar), lehnten aber ein militärisches Engagement zunächst ab.

Frankreich und seine Truppen beherrschten freilich nur die Städte, und auch dies nur tagsüber. Auf dem Land und in den Nächten regierte der Viet-Minh und der setzte den Besatzungstruppen mit Sabotageakten und Guerillaaktionen permanent zu. Giap gelang es durch punktuelle Angriffe, die französische Übermacht zu zersplittern. Mit Maos Sieg in China erhielt der Viet-Minh einen Verbündeten und Kriegsmateriallieferanten, der das Gefälle zwischen der französischen Berufsarmee und den notdürftig ausgestatteten Guerillakämpfern verringerte. Bis 1953 starben auf französischer Seite 4.262 Offiziere und Unteroffiziere, 6.008 Soldaten und 12.019 Fremdenlegionäre und Nordafrikaner. Der Viet-Minh zählte mindestens 15.000 Tote.

Die Nervosität der französischen Generalität stieg angesichts solcher Verluste, und der vietnamesische Widerstand verhärtete sich. General Jean-Marie de Lattre de Tassigny sprach von einem „Kreuzzug“, und sein Kollege Raoul Salan ließ es zu, dass sich in den Stützpunkten „eine Meute von Abwehragenten einnistete“, die Gefangene folterten, um aus ihnen Informationen herauszupressen. Der Krieg wurde zum „schmutzigen Krieg“ (Günter Schütze).

In dieser Situation übernahm General Salan das von der deutschen Wehrmacht entwickelte Konzept der „Igelstellung“ und probierte es in Na San aus: Tief in dem vom Feind kontrollierten Land und nahe der chinesischen Grenze ließ er mit Luftlandetruppen eine Festung errichten. Diese wurde mit schweren Waffen ausgerüstet, über die Vo Nguyen Giap nicht verfügte. Man wollte große Massen von Viet-Minh-Kämpfern anlocken und dann in einer Feldschlacht vernichten. Obwohl dieser Versuch negativ ausging und der Rückzug nur mit viel Glück gelang, hielt Salans Nachfolger General Henri Navarre an der Strategie fest, die einer Pokerpartie glich.

Navarre ließ in Dien Bien Phu im Nordwesten des Landes, vierhundert Kilometer vom Hauptquartier der Armee entfernt, „eine komplette Festung vom Himmel fallen“, so Jules Roy (1907–2000), der zuverlässigste Chronist. Offiziell hieß die Festung „aeroterrestrische Basis zur Unterstützung politisch-militärischer Aktionen“, mit ihr sollte Giap der Weg nach Laos abgeschnitten werden. Wie Salan wollte auch Navarre den Gegner in unwegsames Gebiet locken, wo ein motorisierter Nachschub unmöglich war, um ihn zu vernichten.

Am 20. November 1953 begann die französische Operation „Castor“ mit dem Absprung einer Eliteeinheit von 5.000 Fallschirmspringern. In den folgenden Tagen wurde tonnenweise Material abgeworfen, aus dem Pioniereinheiten eine Landebahn bauten. Täglich flogen sechzig Dakota-Maschinen Soldaten, Material, Waffen, Munition und Verpflegung für elf Bataillone – rund 13.500 Mann – ein, darunter rund ein Fünftel Fremdenlegionäre, von denen die Hälfte Deutsche waren. Diese Truppe errichtete und befestigte Unterstände und Geschützstellungen, die weibliche Vornamen erhielten: von „Anne-Marie“, „Béatrice“, „Claudine“, „Dominique“ und „Eliane“ bis zu „Liliane“. Oberst Christian Marie Ferdinand de la Croix de Castries, ein Kavallerieoffizier, taufte seinen Kommandostand „Epervier“ (Falke). Die Festung hatte einen Radius von acht und eine Außengrenze von fünfzig Kilometern Länge. Um die Soldaten bei Laune zu halten, gab es in der Dschungelfestung auch Bordelle und „Vinogel“ in rauen Mengen – ein Konzentrat, das mit Wasser verdünnt wie Wein geschmeckt haben soll.

Navarre wusste zwar, dass Giap drei Divisionen in Marsch gesetzt hatte, aber er ahnte nicht, was ihn erwartete. Die Vietnamesen bauten stabile französische Peugeotfahrräder so aus, dass ein Mann damit bis dreihundert Kilogramm Last durch den Dschungel bewegen konnte: Verpflegung und Munition, aber auch in Einzelteile zerlegte Artilleriegeschütze. Während sich die französischen Truppen einbuddelten und langweilten, transportierte der Viet-Minh in Gewaltmärschen eine ungeheure Masse von Menschen und Material nach Dien Bien Phu, um das ein dichter Belagerungsring gelegt wurde. Die Taktik des „langsamen, aber sicheren Angriffs“ (Giap) machte aus dem Konzept der „offensiven Basis“ (Castries) eine tödliche Falle: Innerhalb von drei Monaten wurde aus der Festung ein „Nachttopf, auf dessen Boden die Besatzung steht, während der Rand von den Viet-Minh gehalten wird“ (Jules Roy).

Am 13. März 1954 überraschte Giap die Franzosen mit Artilleriefeuer, das zwei Festungen zerstörte und damit die Flugzeuglandebahn, die Lebensader der Festung, in den Zielbereich des Angreifers rückte. Nach einem Monat war die Landebahn zerstört und die Festung nur noch direkt aus der Luft zu versorgen, wobei viele der abgeworfenen Güter auf der falschen Seiten landeten. Navarre forderte Verstärkung an, aber auch der Haudegen Bruno Bigeard und seine legendären „Paras“ konnten das Blatt nicht mehr wenden. Am 7./8.Mai 1954 kapitulierte die demoralisierte französische Truppe. Die Bilanz der katastrophalen Improvisation: 1.500 Tote, 3.500 Verwundete, 10.000 Gefangene, von denen 7.000 den Fußmarsch in die Lager nicht überlebten.

Bereits Anfangs April war die Niederlage absehbar geworden. Die politische Führung in Paris versuchte, die amerikanische Regierung für die „Operation Vautour“ (Geier) zu gewinnen – einen Atomschlag. Dem energischen Widerstand des britischen Premiers Anthony Eden ist es zu verdanken, dass die Falken in Washington und Paris von diesem kriminellen Plan abgebracht werden konnten. Schon zwei Wochen vor der Katastrophe von Dien Bien Phu begann in Genf die Indochinakonferenz, auf der Vietnam am 21. Juli 1954 nach dem Vorbild Koreas geteilt wurde. Insgesamt forderte der etwas über sieben Jahre dauernde französisch-vietnamesische Krieg 750.000 Tote.

RUDOLF WALTHER ist Historiker mit besonderem Interesse für Frankreich und lebt als freier Autor in Frankfurt am Main