Das Leben der Lo-Fi-Boheme

Die Zukunft der Arbeit (Teil 6): Der Bohemist von heute hält sich mit einem komplexen Jobcocktail über Wasser. Manchmal aber wünscht er sich etwas Erholung von der ständigen Zwangskreativität

Gibt es eine Zukunft der Arbeit? Muss es überhaupt eine Zukunft der Arbeit geben? Und was bedeutet Arbeit eigentlich? Die nächsten Folgen unserer Serie zum Thema handeln von der Entdeckung der Langsamkeit im Arbeitsamt und gruppendynamischen Prozessen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

von CHRISTIANE RÖSINGER

Es ist doch seltsam, dass im Fernsehen immer noch „ein schöner Feierabend“ gewünscht wird, dass nach einem Wochenende der kollektive Beginn der Arbeitswoche angekündigt wird, obwohl niemand mehr regelmäßig arbeitet.

Heute kann man Menschen ganz schön verunsichern, wenn man bei Terminabsprachen freimütig versichert: „Wann? Ist egal, ich habe immer Zeit!“ Seit es in weiten Bevölkerungskreisen schick geworden ist, stets gehetzt zu wirken und Vollbeschäftigung vorzutäuschen, hat der Müßiggang ein Imageproblem. Dabei gibt es doch immer mehr Unbeschäftigte, Unterbeschäftige, Nicht-Arbeitsuchende, nicht arbeitende Zeithaber. Das sind wir. Wir gehören nicht zu den glücklichen Arbeitslosen, denn wir sind ja nicht arbeitslos im eigentlichen Sinne. Wir haben keine Erwerbsbiografie, waren fast nie irgendwo angemeldet, haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Umschulungen, Weiterbildungsmaßnahmen, ABM, kommen in keiner Statistik vor.

Auf wundersame Weise schlagen wir uns seit vielen Jahren als Freelance-Proletarier irgendwie durchs Leben und gehören nun einer Art niedrigschwelliger, leicht verarmter Großstadtboheme an. Die Old und New Economy, die Erlebnis- und Dienstleistungsgesellschaft ging irgendwie an uns vorüber, die Ich-AG ist für uns ein alter Hut. Wir beklagen uns manchmal, wollen aber eigentlich nicht anders leben.

Unsere Lo-Fi-Boheme ist ein loser Zusammenhalt, wir wissen voneinander, haben aber nicht ständig miteinander zu tun. Unsere Devise heißt prima leben und sparen, sich durchschlagen ohne sich allzu sehr anzustrengen und verstellen zu müssen. Das ist manchmal problematisch, weil schließlich sind wir ja Bohemisten geworden, um nicht arbeiten gehen zu müssen.

Das Leben der Boheme ist oft ein wenig langweilig, die Tage ziehen sich. Lange schlafen, ewig Zeitung lesen, immer wieder Kaffee trinken, am Schreibtisch sitzen, in der Wohnung umhergehen, aus dem Fenster sehen, die Nachbarn beobachten, gewissenhaft alle Fernsehserien analysieren, zwanghaftes Flanieren und endloses In-den-immer-gleichen-Cafés-Sitzen. Die Nächte ein ewiges Ins-Kino-Gehen, Was-trinken-Gehen, Auf-Konzerte-Gehen, In-Clubs-Gehen, Auf-Partys-Gehen, Nach-Hause-Gehen. Das ist langweilig, aber auch sehr anstrengend. Alles, was wir tun, ist gleichzeitig hoch spezialisierte Arbeit, aber fast nichts wird bezahlt: sich informieren, schreiben, Projekte machen, vernetzen, Band haben, Kinder großziehen, ausgehen. Wir müssen Erlebnisse haben, um sie verwerten zu können, Demütigungen erleben, um daran zu wachsen, zwischenmenschliche Schwierigkeiten überwinden, um soziale Kompetenz anzuhäufen. Diese Anstrengungen werden von unserer leistungsorientierten Gesellschaft natürlich null honoriert, aber das ist uns auch ein bisschen recht, denn wir sind ohnehin für ein eher kontemplatives Dasein geschaffen.

Ist aber eine temporäre Phase der äußeren und inneren Unterbeschäftigung zu lange und wird sie nicht durch innere oder äußere Aktivitätsschübe unterbrochen, kann es auch in der Boheme leicht zum gefürchteten Unterforderungs-Burnout kommen. Das Unterforderungs-Burnout zeigt die gleichen schrecklichen Symptome wie das bekanntere Überforderungs-Burnout, nur umgekehrt. Deshalb ist es für jeden freiberuflichen Bohemisten unabdinglich, sich einen ausgewogenen Jobcocktail zu mixen.

Dieser Jobcocktail sollte sich zusammensetzen aus 50 Prozent ehrenamtlicher, künstlerischer, also unbezahlter Projektarbeit, etwa die eigene Band, Trilogie, Ahnenforschung, Lesegruppe, Agentur oder sonst wie unrentable Firma, 35 Prozent freiberuflicher, kaum vergüteter Tätigkeit bei einer kulturell halbwegs anerkannten Institution, um den Anschluss ans wahre Leben nicht zu verlieren, 25 Prozent tatsächlich bezahlter, so genannter Brotjobs, bevorzugt im bohemistisch-alternativen, popkulturellen Umfeld: Tippen, Kinokarten verkaufen, Gästelisten überwachen, Türstehen, Getränke verkaufen.

Während vor zwei Jahrzehnten noch das Gespenst der entfremdeten Arbeit herumgeisterte – wie schlimm, den ganzen Tag im Büro sitzen! –, träumt der freiberufliche Bohemist heute hin und wieder von einer relativ stumpfen, vielleicht leicht ordnenden oder überwachenden Tätigkeit, als Erholung von der ständigen Zwangskreativität. In sehr dunklen Momenten kann es sogar dazu kommen, dass plötzlich eine von außen aufgezwungene Struktur, ein Grund, morgens aufzustehen, als wohltuend empfunden und herbeigesehnt wird.

Die Boheme ist kein klassenfreier Raum, auch in unseren müßiggängerischen Zirkeln gibt es feine Unterschiede, wundert man sich, wie manche so prächtig von ihren sparsamen Aktivitäten leben können. Aber auch die Business-Class-Bohemisten können nicht hexen, hinter der Sorglosigkeit stecken dann doch oft die Immobilie, der Börsengewinn, das Erbe, die Eltern. Aber bei allem berechtigten Klassenhass: Wünschten wir uns nicht alle hin und wieder, irgendeine liebe Institution würde uns eine bescheidene, aber ausreichende monatliche Apanage überwiesen, eine kleine Anerkennung für unsere Kulturleistungen, unsere Werke, unser Dasein?

Solange dies nicht geschieht, heißt die Gegenwart und Zukunft der Arbeit eben Jobcocktail oder glückliche Teilzeit. Sommerhaus später, Callcenter jetzt.

Wahrscheinlich bietet nur das Callcenter dem Bohemien die größtmögliche finanzielle und ideele Freiheit. Hier können nämlich alle, die doch eigentlich Regisseure, Schriftsteller, Musikerin, Künstler oder Geisteswissenschaftlerinnen sind, mit ihren kommunikativen Fähigkeiten, ihrem Ideenreichtum und Sprachgefühl den Lebensunterhalt heimlich verdienen.