Der Gott der kleinen Kugeln

Ronnie O’Sullivan, ebenso prolliger wie genialischer Exzentriker des Snookers, stürmt bei der WM ins Halbfinale. Dort wartet wohl ausgerechnet Stephen Hendry, Vertreter der biederen Traditionalisten

VON ERIK EGGERS

Gott trägt zurzeit langes, schwarzes Haar und dazu, damit dieses nicht ins Gesicht fallen möge, eine ziemlich affige Spange. Gott gähnt gelangweilt, um seine Gegner zu provozieren. Überhaupt ist Gott, den Erdenbewohner mit bürgerlichem Namen Ronnie O’Sullivan rufen, ein ziemlicher Flegel. Zu beobachten ist der Allmächtige derzeit im Crucible Theatre in Sheffield, wo bis zum 3. Mai die mit zwei Millionen Pfund dotierte Snooker-Weltmeisterschaft ausgetragen wird – eine hierzulande vielleicht belächelte Veranstaltung, die aber im sport- und traditionsbegeisterten Großbritannien einen unfassbar hohen Stellenwert genießt. Seriöse Zeitungen wie die Times oder der Guardian widmen diesem Sport ganze Seiten, und nicht umsonst überträgt die BBC über 100 Stunden live. Die Snooker-Heroen Jimmy White, Stephen Hendry oder eben den exzentrischen O’Sullivan kennt in England und Schottland jedes Kind.

In der ersten Runde von Sheffield hat dieser O’Sullivan dem riesigen, 3,60 mal 1,80 Meter messenden Tisch mit den unfassbar eng geschnittenen Taschen den Mittelfinger gezeigt. Weil der Weltmeister von 2001 es schlicht als Häresie empfand, dass eine Tasche nicht, wie er es doch vorbestimmt hatte, den Ball verschluckte. Daraufhin drohte ihm die Turnierleitung mit einer saftigen Geldstrafe. Aber Gott, wir ahnen es, hatte eine Entschuldigung nicht nötig. Weil er all diejenigen verachtet, die seiner fabelhaften Spielkunst nicht uneingeschränkt huldigen. „Wenn man mich bestrafen will, dann soll man es tun“, sagte O’Sullivan, „mir ist das eigentlich egal, weil ich eine Menge Geld habe.“ Die Profis des Snookers, edelste und komplizierteste Variante des Billard und einzige Sportart, die heute noch beherrscht wird von ihren britischen Erfindern, sind anständig und nobel, sie gelten als die letzten Ausläufer des aristokratischen Sports des 19. Jahrhunderts. O’Sullivan ist der Gegenentwurf: Arrogant, überheblich und selbstverliebt. Ein Außenseiter. Ein Rocker mit Fliege.

Er kann es sich leisten. Bei der WM im letzten Jahr spielte er ein so genanntes Maximum Break. Das perfekte Spiel. 147 Punkte in einer Serie: 15 Mal traf er abwechselnd einen roten (ein Punkt) und dann den hochwertigen schwarzen Ball (sieben Punkte), und schließlich die farbigen Kugeln in der Wertigkeit von unten nach oben: gelb, grün, braun, blau, rosa und schwarz. Dabei spielte O’Sullivan nicht nur gewohnt präzise und genial in der Ablage, die den nächsten Stoß vorbereitet. Das Ganze ging mit einer derart diabolischen Geschwindigkeit vonstatten, dass die anderen Profis ihr parallel stattfindendes Spiel unterbrachen, um ihm zuzusehen und zu staunen. O’Sullivan benötigte für das, wovon Snooker-Profis ihr Leben lang träumen, gerade mal exakt 390 Sekunden. „Ronnie in diesen gut sechs Minuten zu beobachten“, sagte danach sein schottischer Konkurrent Alan McManus, „ist wie Gott bei der Arbeit zuschauen zu dürfen.“

Nur einmal zuvor war ein schnelleres Spiel auf den grünen Filz gezaubert worden: Bei der WM 1997. Ebenfalls von O’Sullivan. Damals brauchte er sagenhafte 320 Sekunden, als er wie in Trance um den Tisch rannte und seinen Queue zaubern ließ. Ein Rekord für die Ewigkeit. Seitdem nennen die Fans den Überirdischen auch „The Rocket“.

Die Rakete explodierte in der versnobten Snooker-Szene, wie es kein PR-Berater besser hätte inszenieren können. Mit 15 Jahren spielte er sein erstes Maximum Break, mit 16 wurde er Profi, mit 17 gewann er die UK Championships, das neben der WM wichtigste Turnier, mit 23 hatte er bei offiziellen Turnieren bereits über 150 century breaks gespielt – über hundert Punkte in einer Aufnahme –, mit 26 gewann er die WM, inklusive jenes legendären Maximum Breaks, das ihm zusätzliche 147.000 Pfund einbrachte.

Zum Objekt des Boulevards aber wurde er seiner Herkunft wegen: Er wuchs auf in einem tristen Vorort Londons. Sein Vater erstach den Fahrer der legendären Gangster-Brüder Kray und sitzt seit Ronnies zwölftem Lebensjahr lebenslänglich im Gefängnis. Auch die Mutter schaute wegen Steuerhinterziehung schon durch schwedische Gardinen. Angesichts dieser Kindheit verwundern die Depressionsschübe nicht, die O’Sullivan heimsuchen sollen und von denen seine melancholischen Augen zu erzählen scheinen.

Wer diese Geschichte und diese traurige Augen hat, der soll auch siegen. Deswegen hoffen nicht nur die mehr als 500.000 deutschen Zuschauer, die derzeit regelmäßig bei Eurosport einschalten, mehrheitlich auf ein Halbfinal-Duell O’Sullivans mit Stephen Hendry, siebenfacher Weltmeister und (langweiliger) Vertreter der Old School im Snooker. O’Sullivan hat seinen Part erfüllt: Dienstag exekutierte er gewissermaßen seinen frustrierten Viertelfinal-Kontrahenten Anthony Hamilton, 13:3 Spiele hieß es am Ende. Hendry befand sich ebenfalls auf Halbfinalkurs. Ein episches Duell kündigt sich an. Die meisten werden Gott die Daumen drücken.