Interventionisten und Genießer

Die schwedische Victoria-Gemeinde feiert am Wochenende ihren 100. Geburtstag. Ihre Pfarrer verhalfen Menschen zur Flucht – vor Nationalsozialisten und über die Mauer

„Vor den Deutschen müssen wir uns in Acht nehmen“, sagt Pfarrer Peter Wänehag schmunzelnd. „Wenn wir alle in unsere Gemeinde aufnehmen würden, die wollen, wären wir binnen eines halben Jahres deutsch.“ Die schwedische Victoria-Gemeinde in Wilmersdorf kann sich des Berliner Sympathieansturms nur erwehren, indem sie ein hartes Kriterium festgelegt hat. Jedes neue Mitglied muss Schwedisch können. Und welcher Deutsche spricht schon diese Sprache?

Vor hundert Jahren, am 7. Juni 1903, wurde die Victoria-Gemeinde gegründet und ist damit die älteste schwedische Gemeinde in Deutschland. Ihre Mitglieder feiern das Jubiläum an diesem Wochenende mit einem üppigen Veranstaltungs- und Festprogramm, dem sogar der schwedische König Carl Gustav und Königin Silvia die Ehre geben (siehe Kasten).

Die Gemeinde ist seit der Wende auf 680 Mitglieder gewachsen. Sie besitzt auf dem Gelände in der Landhausstraße neben der Kirche ein Schulgebäude für Schüler der 1. bis 6. Klasse, eine Bibliothek und ein Gemeindezentrum. Tatsächlich ein idyllisches Stück Schweden in Berlin. Das Verhältnis zwischen den Berlinern und den Schweden könnte besser nicht sein. Gemeinsam feiert man die Walpurgisnacht und Mittsommer. Den traditionellen Weihnachtsbasar der Gemeinde besuchten im letzten Jahr 16.000 Menschen.

Die Schweden waren in den letzten 100 Jahren auch kritische Gäste, die in die deutschen Zustände, wenn sie ihnen unhaltbar erschienen, intervenierten. So wurden die Pfarrer Birger Forell (1929 bis 1942) und Erik Perwe (1942 bis 1944) gegen den Nationalsozialismus für verfolgte Juden und Antifaschisten aktiv. Beide kamen oft mit einer Tasche voller Pässe aus Schweden nach Berlin zurück, mit denen die Drangsalierten ausreisen konnten. Perwe wurde 1944 bei einem Kurierflug über der Ostsee abgeschossen.

Bei ihrem Widerstand gegen das Hitler-Regime wurden die schwedischen Pfarrer von den beiden Berliner Polizisten Mattick und Friedrich Hoffmann unterstützt. Sie arbeiteten im gegenüberliegenden Polizeirevier und warnten die Gemeinde vor geplanten Gestapo-Razzien, indem sie die Rollläden der Polizeistation herunterließen.

Für die Polizisten hat der Gemeinderat zum 100-jährigen Jubiläum eine Gedenktafel gestiftet, die am Sonnabendvormittag in Anwesenheit von Polizeipräsident Dieter Glietsch eingeweiht werden soll.

Auch nach dem Krieg mischte sich die schwedische Gemeinde in den Berliner Alltag ein. Der von 1950 bis 1987 in Berlin tätige Pfarrer Heribert Jansson schmuggelte nach dem Mauerbau in seinem Auto Ausreisewillige nach Westberlin. Die DDR-Behörden erklärten ihn dafür zur Persona non grata. Die DDR verzieh ihm erst nach zehn Jahren. Dann konnte er wieder am jährlichen Gedenkgottesdienst für König Gustaf II. Adolf, der stets am 6. November im brandenburgischen Lützen stattfindet, teilnehmen.

„Man kann als Auslandsgemeinde nicht in einer Enklave leben, sondern muss den lebendigen Kontakt suchen. Man muss auch etwas geben und manchmal muss man auch mitspielen“, resümiert Pfarrer Wägehag die Geschichte seiner Victoria-Gemeinde.

Einen Überblick zu der lebendigen Historie der kleinen schwedischen Gemeinschaft in Berlin gibt eine sehenwerte Ausstellung. Ab Montag ist sie bis Mitte August in der Landhausstraße zu besichtigen. Dort posiert auf einem Foto Pfarrer Jansson vor seinem Jaguar. Sie sind eben nicht nur moralische Interventionisten, die Berliner Schweden, sondern auch lebensfrohe Genießer. HEIKO HÄNSEL