Die Dekonstruktion schlägt zurück

Produktive Ambivalenzen und kunstvolle Ansammlungen falscher Fährten in Gedenken an Paul de Man: John Banvilles Roman „Caliban“

Als im Jahr 1987 bekannt wurde, dass der kurz zuvor verstorbene Star der Literaturtheorie Paul de Man zur Zeit der Nazi-Okkupation in Belgien kollaborative Zeitungsartikel verfasst hatte, geriet seine darauf folgende moralische Demontage in der öffentlichen Diskussion gleichzeitig zum Generalschlag gegen seine Theorien. Diese schienen sich ohne Zweifel anhand ihres eigenen Erfinders widerlegen zu lassen. Als Verkünder der Dekonstruktion hatte de Man den Autor als selbstbestimmte, gottgleiche Autorität abschaffen wollen und die Bedeutung eines Textes für grundsätzlich nicht fixierbar erklärt.

Ganz im Gegensatz dazu wurden seine inkriminierenden Jugendschriften jedoch durchaus in einem eindeutigen Sinn gelesen, nämlich einem antisemitischen, und de Man wurde für diese als Autor voll und ganz verantwortlich gemacht. Als wäre er nie zum veralteten historischen Konstrukt degradiert worden, war der klassische Autorbegriff wieder da, und die seit dem Poststrukturalismus zum Sakrileg gewordene Frage: „Was wollte uns der Autor damit sagen?“ führte zum nachträglichen Absturz eines international gefeierten Wissenschaftlers. 1:0 für die alte Schule der Hermeneutik und des Positivismus.

Doch der Fall de Man lässt sich offensichtlich so leicht nicht beenden, arbeitet er doch in den Köpfen der Schriftsteller weiter, die de Man einst von ihrem Thron gestoßen hatte. 1992 veröffentlichte der britische Autor Gilbert Adair seinen Roman „Der Tod des Autors“, in dem er aus dem Fall einen raffinierten Krimi strickte, der seine Auflösung anhand einer überraschenden dekonstruktiven Logik entwickelte. Zwei Jahre später machte der Schwede Lars Gustafsson in „Die Sache mit dem Hund“ de Man zur literarischen Figur. Nun folgt ihm der irische Schriftsteller John Banville mit „Caliban“, und auch er spickt sein erzählerisches Denkspiel um den einstigen Literaturskandal mit falschen Fährten und Zweideutigkeiten, die jede scheinbare Aufklärung sofort wieder in Zweifel ziehen. Fast möchte man meinen, hier schlage, mehr als ein einzelner Autor, die Dekonstruktion selbst zurück.

Banvilles Roman wird zum größten Teil von Axel Vander erzählt, einem bedeutenden Literaturwissenschaftler, der aus dem Ruhestand durch einen Brief aufgeschreckt wird. Darin droht ihm die junge irische Wissenschaftlerin Cass Cleave, ein ungenannt bleibendes Geheimnis aus seiner Vergangenheit aufzudecken. Vander, der nach dem Tod seiner Frau eigentlich vorgehabt hatte, sich gänzlich in sein Haus an der amerikanischen Westküste zurückzuziehen, willigt ein, Cass am Rande einer Nietzsche-Tagung in Turin zu treffen. Damit platziert Banville zwei wichtige Hinweise, einen auf den von Axel Vander ebenso wie von de Man verehrten Philosophen und Kritiker des rationalen Weltbildes, und einen auf das angebliche Leichentuch Christi. Während sich der deutsche Titel auf das grobschlächtige Äußere Vanders sowie sein ungehobeltes Benehmen bezieht, heißt das Buch im Original nach der höchsten und umstrittensten Reliquie des Christentums. Dem Augenschein ist nicht zu trauen, und Vander selbst ist ein geborener und selbst erklärter Lügner.

So mag es den Leser schon stutzig machen, wenn die Begegnung zwischen dem kranken alten Mann und der jungen Irin sich binnen Stunden zu einer heftigen Affäre entwickelt. Liegt es daran, dass Cass, deren Vater bereits aus Banvilles Roman „Sonnenfinsternis“ (2002) bekannt ist, psychisch äußerst labil ist? Oder gestaltet Vander auch diese Episode als Fiktion, wie er es mit seinem ganzen Leben getan hat? In seinem, von Banville meisterhaft gestalteten, übellaunig polternden Erzählstrom findet man weder Halt noch Anhaltspunkte für die Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit.

Das ändert sich auch nicht, als Vander in einem Mittelteil dann tatsächlich von seiner Jugend in Belgien und seiner Flucht über England bis nach Amerika erzählt. Diese Rückerinnerung gestaltet sich zwar als gutes altes Geschichtenerzählen, ein Aufatmen für den vom mäandernden Redestrom des Erzählers geplagten Leser, aber gerade darum ist sie besonders suspekt. Man sollte nicht glauben, dass der Konfessionscharakter dieses vermeintlichen Dénouements Wahrhaftigkeit garantiert. Im Wechselspiel vertauschter Identitäten und unterdrückter Schuld ist nichts einfach und offensichtlich, am Ende nicht einmal, wer hier eigentlich wem erzählt.

Banvilles Roman ist ein großartiger Akt der Verschleierung, eine kunstvolle Ansammlung falscher Fährten mit eingebauter Unschärfe, denn je näher man hinsieht, desto weniger kann man erkennen. Verunsicherung ist sein Programm, was ihn zwar nicht zu einer entspannenden, aber dafür zu einer auf interessante Art herausfordernden Lektüre macht. „Caliban“ fügt sich damit in die ansehnliche und hoch gelobte Reihe seiner anspruchsvollen Romane nahtlos ein, in denen er sich Eindeutigkeiten in Geschichte, Kunst oder Wissenschaft verweigert und stattdessen produktive Ambivalenzen anbietet. Und auch wenn der Roman nicht als Verteidigung de Mans fungiert, funktioniert er doch als Rehabilitierung der Relativität, für die sich jener ausgesprochen hatte.

SEBASTIAN DOMSCH

John Banville: „Caliban“. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 384 Seiten, 22,90 €