Zeit für eine Gegenmacht

Die Demonstrationen gegen Sozialabbau sind kein Ausdruck der Ziellosigkeit, sondern eine Chance. Zwar sind die großen Entwürfe noch nicht gefunden, aber eine neue soziale Bewegung sucht danach

VON ANNA LEHMANN

Die Großdemonstrationen gegen Sozialabbau sind ein hoffnungsvolles Zeichen. 500.000 Menschen waren in Deutschland am ersten Aprilwochenende auf der Straße. Und dieser Protest von einer halben Million Bürger bildet – entgegen der kritisierten, vermeintlichen Ziellosigkeit – einen fruchtbaren Nährboden für eine von breiten Gesellschaftsschichten getragene soziale Bewegung, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse stemmt.

Generell gehören solche Veranstaltungen organisierter Solidarität zu den guten Tagen für die Linke. Denn das Wir-Gefühl von hunderttausenden steht im Kontrast zum alltäglichen Paradigma, das Eigenverantwortung und -initiative fordert und von den Menschen verlangt, sich gegen ihresgleichen im Zugang zu Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe durchzusetzen.

Über den Tag hinaus spricht eine halbe Million Menschen für ein Klima wachsender Politisierung. Wer zur Demo geht, ist unzufrieden, zeigt aber, dass er oder sie sich damit nicht abfindet. Denn jene, die widersprechen, sind trotzig genug, sich nicht als hilflose Opfer von Sachzwängen zu begreifen, sondern haben den Anspruch, eine Gegenmacht zu bilden.

„Eine andere Welt ist möglich“, das verkünden die Globalisierungskritiker von Attac in einer Zeit, da Kapitalismus eine globale Tatsache ist. Dieses Sich-nicht-Abfinden ist die Triebfeder sozialer Bewegungen, die darauf gerichtet sind, politische Macht an die Gesellschaft zurückzugeben.

Eine Demo bewirkt keine unmittelbare Kurskorrektur. Sie darf aber auch nicht an ihren vorzeigbaren Ergebnissen gemessen werden. Ein hämisches „Vor der Demo ist nach der Demo“ ist kurzsichtig. Proteste wirken langfristig konstruktiv, denn sie machen Missstände öffentlich und fördern die Entstehung eines gesellschaftlichen Diskurses über die angeprangerte Politik. Ein gelungenes Beispiel sind die Studentenproteste vom vergangenen Semester. Eine Minderheit aktiver Studenten hat es geschafft, die Zustände an den Hochschulen auf die politische Agenda zu heben. Die Berliner Debatte über die Einführung von Studienkonten innerhalb der PDS, die in Berlin mitregiert, wurde auch vor dem Hintergrund des Studentenstreiks geführt. Wenn eherne Überzeugungen debattiert und hinterfragt werden, entsteht Freiraum für alternative Ideen.

An Demonstrationen wird bemängelt, dass zwar alle genau wissen, wogegen sie sind, aber sich nicht auf ein „Dafür“ einigen können. Die feste ideologische Basis fehlt. Das ist angesichts des erst 15 Jahre zurückliegenden Scheiterns des realen Sozialismus und seiner historischen Wahrheiten nicht verwunderlich. Zu frisch sind die Erinnerungen an gestürzte Dogmen, als dass man sich freudig neuen unterwerfen könnte. Die Zeit der großen Entwürfe ist noch nicht gekommen, doch die Suche danach hat begonnen.

Die ideologische Konturlosigkeit der Demonstrationen ist auch einer steigenden Zahl von Akteuren geschuldet. Allein der Schulterschluss von Gewerkschaften und Attac führt Gegensätzliches zusammen. Die einen stehen für grenzüberschreitende Gerechtigkeit, die anderen halten ihre Hand schützend über die kleiner werdende nationale Klientel.

Doch dieses Bündnis spricht dafür, dass Probleme nicht mehr ausschließlich regional, sondern als Ergebnisse weltweiter Ungerechtigkeiten gesehen werden. Die totale Unterordnung unter ein abstraktes Profitstreben macht weder vor den Interessen indischer Urvölker noch vor deutschen Arbeitnehmerrechten Halt. Die Einzelinteressen der Demonstranten fügen sich in dieses Muster ein. Natürlich wird in Deutschland auf höherem Niveau ausgebeutet, und Einschnitte schmerzen viele nicht. Noch nicht. Der deutsche Gewerkschaftsbund muss sich bereits jetzt damit auseinander setzen, dass die Hälfte seiner Mitglieder nicht mehr im Normalarbeitsverhältnis steht. Die Gewerkschaften verändern sich im Wandel der Arbeitswelt, und sie müssen sich weiter reformieren.

Im Bündnis mit anderen Gruppen müssen die Partner ihre Widersprüche thematisieren. Dann wird es ihnen auch gelingen, die viel eklatanteren Verwerfungen des kapitalistischen Systems anzugreifen. Freier Kapitalverkehr und verriegelte Grenzen? Wohlstand aus Wachstum und gravierende Umweltschäden? Solchen Widersprüchen muss sich eine soziale Bewegung widmen und nach Lösungen suchen. Die Demonstrationen, die Gründungswelle von Sozialforen, die Proteste der Studenten zeugen vom Willen, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wer fertige Antworten sucht, kommt zu früh.