Bibel für die Augen

In Bayern erleben Heilige Gräber zu Ostern eine Renaissance. Der Amtskirche ist die „neue Sinnenhaftigkeit“ noch etwas suspekt

VON GEORG ETSCHEIT

Lange Schlangen vor einer Kirche sind selten. Selbst in Bayern, wo die Gotteshäuser auch nicht viel voller sind als im übrigen Land. Im ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift Höglwörth, an einem verwunschenen See im oberbayerischen Rupertiwinkel, liegen die Verhältnisse anders. Zumindest alle drei Jahre zu Ostern ist hier – nun ja – die Hölle los. Da drängeln sich die Menschen vor dem Portal der früheren Stiftskirche St. Peter und Paul, der Parkplatz ist überfüllt, und die Autos stehen sogar bis weit die Straße hinauf.

Die Gläubigen kommen zum „Grabschaun“, wie es auf gut Bayerisch heißt. Höglwörth besitzt eines der prächtigsten Heiligen Gräber in Süddeutschland. Das Kleinod wird, wegen des großen Aufwands, nur im dreijährigen Turnus aufgebaut. Und deshalb kommen die Menschen von weit her, um sich in der mystisch abgedunkelten Kirche dieses Schmankerl barocker Pop-Art nicht entgehen zu lassen.

Das Heilige Grab von Höglwörth nimmt den ganzen Altarraum ein. Hintereinander angeordnete portalartige Kulissen lenken den Blick auf den Leichnam Christi in der Grabhöhle, die Monstranz und ein darüber rotierendes, von Wasserkraft angetriebenes Sonnenrad inmitten eines Wolkenprospekts. Die Szenerie wird von 81 mit farbiger Flüssigkeit gefüllten Glaskugeln, hinter denen Lichter flackern, in magisches Licht getaucht. Acht Meter über der Bühne hängt ein mit Öllichtern besetztes, rötlich schimmerndes Kreuz.

Der vordere Bereich des Grabes ist mit Blumen geschmückt; ein kleiner Springbrunnen plätschert leise vor sich hin. Das ist der Garten Gethsemane, wo Christus von den Römern verhaftet wurde, nachdem ihm Judas seinen verräterischen Kuss auf die Wange gedrückt hatte. Der Ort strahlt eine Atmosphäre heiterer Melancholie aus. In diesem wunderlichen „Theatrum sacrum“ hat der Tod wahrlich nichts Endgültiges, sondern verweist schon auf die Auferstehung. Leider wird die kontemplative Ruhe von den murmelnden und füßescharrenden Menschenmassen gestört, deren Strom am Karfreitag und Karsamstag nicht abreißen will.

Fünfundzwanzig Gemeindemitglieder seien jedes Mal damit beschäftigt, das Grab aufzubauen, sagt Max Fegg, der Mesner (Küster) von Höglwörth. Besonders viel Zeit koste es, die Glaskugeln herzurichten, deren größte 62 Liter fasst. Mit welchen farbigen Flüssigkeiten die gläsernen Ballons gefüllt werden, verrät Fegg nicht. „Das ist a bisserl a Geheimnis, eine alte Überlieferung.“

Ein Infoblatt klärt über die Geschichte des Heiligen Grabes zu Höglwörth auf. Danach kann die Tradition seit 1652 nachgewiesen werden. Im 18. Jahrhundert wurde das Grab durch den zuständigen Salzburger Erzbischof eine Zeit lang verboten. Auch nach der Liturgiereform des 2. Vaticanums (1962–65) hatte es fünf Jahre lang kein Heiliges Grab mehr gegeben. Der damalige Mesner Hans Fegg, Vater von Max Fegg, wagte sich dann aber „mit einer Schar treuer Helfer“ daran, den Brauch alle drei Jahre wieder zu beleben. „Einen Haufen Besucher haben wir jetzt immer hier“, sagt sein Sohn. „Zehn- bis fünfzehntausend sind es jedes Mal.“

In Bayern – wie in Tirol – erleben die Heiligen Gräber eine Renaissance. Überall werden die alten Kulissen und Holzfiguren von den Dachböden und Speichern geholt, entstaubt und repariert. Darunter auch das mutmaßlich größte Heilige Grab Deutschlands, das zu Ostern 2004 in Landshut zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder präsentiert wird. Mehr als drei Jahre lang wurde die aus sechzig Einzelkomponenten bestehende spätbarocke Komposition, die lange als verschollen galt, aufwändig restauriert. Das Werk stammt von dem Prager Freskanten Karl Joseph Maravini, der um 1738 eine pompöse Grabkirche für den toten Christus geschaffen hatte, eine imposante Kulisse mit beeindruckender Tiefenwirkung. In tagelanger Arbeit wurde das illusionistische Meisterwerk jetzt in der Landshuter Jesuitenkirche aufgebaut.

Woher kommt die neue Lust an der üppigen Zurschaustellung gläubiger Gewissheit in einer Zeit des Ungewissen? Woher kommt das Selbstvertrauen, den „antiquierten Firlefanz“ wieder hervorzukramen, der einst im Zeichen von Aufklärung und Entmythologisierung eingemottet, gar kurzerhand zerstört worden war? Winfried Röhmel, Sprecher der Erzdiözese München-Freising, bestätigt ein Wiederaufblühen der Gräbertradition. Eine „neue Unbefangenheit“ gegenüber dem „Geschehen, das unserem Glauben zugrunde liegt“, stellt er fest, wobei ein gewisses Unbehagen über so viel volksfromme Unbefangenheit mitzuschwingen scheint.

„Vonseiten der Diözese“, lässt Röhmel verlautbaren, „wird das als Element einer zeitgemäßen Seelsorge gutgeheißen.“ Pfarrer Michael Kiefer, der für Höglwörth zuständig ist, freut sich dagegen hörbar über den Publikumserfolg seines Grabes. „Die Sinne kommen doch in der verbalen Liturgie viel zu kurz.“ Ein Heiliges Grab sei „wie eine Bibel, die man mit den Augen lesen kann“, sagt er. „Da kommt unbandig [ungeheuer] viel Glauben rüber.“

Die wechselvolle Geschichte der Heiligen Gräber erläutert Sylvia Hahn vom Diözesanmuseum in Freising. Historisches Vorbild aller Gräber, berichtet sie, war das Christusgrab in der Grabeskirche zu Jerusalem. Kreuzfahrer errichteten seit dem 5. Jahrhundert in der Heimat Nachbildungen desselben. Das waren zunächst feste Steinmausoleen, zu denen die Menschen, die sich eine Fahrt ins Heilige Land nicht leisten konnten, ganzjährig pilgerten. Vom 10. Jahrhundert an wurden Heilige Gräber temporär aufgebaut und mit der Osterliturgie verbunden. In einer heiligen Zeremonie wurde der Corpus, der zuweilen mit anklappbaren Armen ausgestattet war, am Karfreitag vom Kreuz genommen und ins Grab gelegt.

Nach Ostern wurde er wieder am Kreuz befestigt. Im 13. Jahrhundert kamen liegende Christusfiguren auf. In der Karfreitagsliturgie wurde eine Hostie in der Herzwunde des Leichnams versenkt. „Der Leib Christi wurde sozusagen doppelt begraben“, sagt Hahn.

Am Ostersonntag stellte man zur Auferstehungsfeier eine Figur des Auferstandenen anstelle des Leichnams auf. Mit der Zeit wurden die Apparaturen, die den Szenenwechsel vor versammelter Gemeinde ermöglichten, immer raffinierter. Ihre größte Blüte erlebten die Heiligen Gräber im Barock, als die kämpferische Kirche der Gegenreformation mehr denn je alle Sinne der Gläubigen ansprechen wollte. Manchmal wurden die Gräber, wie in St. Michael in München, gar zum „lebenden Bild“. Junge Adlige rissen sich darum, jeweils für ein paar Stunden den Christus-Leichnam verkörpern zu dürfen.

Andere Gräber waren veritables Maschinentheater. Mit mechanischen Vorrichtungen, wie sie auf der Opernbühne üblich waren, wurde der „Grablieger“ (die Figur des toten Jesus) an passender Stelle im Gottesdienst in die Versenkung geschickt – zugleich wurde mit einem Seilzug der Auferstandene hochgezogen. Plötzlich, wie von Geisterhand herbeigeholt, saß eine weiß gewandete Engelsfigur in der jetzt leeren Grabkammer. Dazu brauste die Orgel, läuteten die Glocken …

Mit dem Zeitalter der Aufklärung kam das Verbot der Heiligen Gräber. Kaiser Joseph II., Sohn Maria Theresias und Urheber des bahnbrechenden Toleranzedikts gegenüber Nichtkatholiken, untersagte 1782 die alte Tradition. Damals hätten, so Hahn, auch andere als nicht mehr zeitgemäß empfundene Volksbräuche wie die Palmsonntagsprozessionen mit dem hölzernen Palmesel dran glauben müssen. In Bayern setzte unter dem Grafen Montgelas ein wahrer „Bildersturm“ ein, der den Gräbern fast den Garaus gemacht hätte. Aber die rationalistische Phase währte nicht lange. Kurz nach Josephs Tod wurde das Verbot wieder aufgehoben; das Bedürfnis der Gläubigen nach heiligem Zauber war offenbar zu groß.

Im 19. Jahrhundert beeilte man sich, die Gräber zu rekonstruieren. Beinahe noch nachhaltiger als die Aufklärung wirkten die innerkirchlichen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils, insbesondere die Liturgiereform, und die Säkularisierung im 20. Jahrhundert. Jetzt schienen die Heiligen Gräber endgültig in der Versenkung zu verschwinden. Das gesprochene Wort siegte einstweilen über den pompösen Kult. In die Kirchen und Kapellen zog demokratische Nüchternheit ein.

Doch, oh Wunder, das Blatt wendet sich erneut. Die allenthalben zu beobachtende „neue Sinnenhaftigkeit“, die sich in der Renaissance der Heiligen Gräber manifestiert, scheint Teilen der Amtskirche noch suspekt zu sein. So wie alle Formen der Volksfrömmigkeit einen Verlust von Kontrolle über die mehr oder weniger gläubige Herde bedeuten können. Aber der Klerus sieht sich doch gezwungen, dem wachsenden Bedürfnis nach einer bildvolleren religiösen Sprache nachzukommen. In der Medien- und Spaßgesellschaft kommt auch die Kirche nicht umhin, auf kräftige Effekte zu setzen. Das wussten schon die Jesuiten, die im Barock mit ihrem „Theatrum sacrum“ die Gläubigen gleichfalls in schwerer Zeit mit allerlei einfallsreichen Events bei der Stange zu halten suchten.

Mehr und mehr werden die Heiligen Gräber nun auch wieder in die reguläre Osterliturgie einbezogen. In Höglwörth soll dieses Jahr sogar eine Auferstehungsfeier nach altem Muster abgehalten werden. Dabei wird am Ostersonntag nachmittags während einer Andacht die Monstranz mit dem Allerheiligsten mittels eines von Hand betriebenen Aufzugs nach unten, gleichzeitig eine Figur des Auferstandenen zum Halleluja nach oben gefahren. Fast wie früher. Nur auf das bengalische Feuer, das einst zu dem Spektakel abgebrannt wurde, muss verzichtet werden. „Unsere Kirche wurde gerade renoviert“, sagt Max Fegg. „Da hätte bestimmt der Denkmalschutz etwas dagegen.“

GEORG ETSCHEIT, 42, lebt als freier Autor und Journalist in München