Per High Peak ins Glück

Nichts ist so aufregend wie die Wahrheit: Helge Timmerberg ist der legitime Erbe von Hunter S. Thompson und ein Meister des Gonzo-Journalismus. In seinem neuen Buch „Schneekönig“ erzählt er die Geschichte von Ronald Miehling, der Deutschlands größter Kokainimporteur war. Ein Porträt

Wenn ich im Urwald bin, ist das wie bei einem Rennfahrer in der Steilkurve

von HENNING KOBER

Es ist die Pest. Wohin wir Hasen auch hoppeln, egal welche Nacht, welche Stadt, welches Land, ein Igel ist immer schon da: Rocketmaster Kokain ist der Host jeder Nacht. Keine kann so großartig sein, dass nicht mindestens ein, zwei, ein Dutzend Gesichter sagen: Willst du? Hast du? Kennst du jemand? Augen blinken, Finger fahren über den Nasenrücken. Das Unvermeidliche geht los. Geschnupft wird verborgen in den Toiletten, öffentlich in entspannten Clubs, überall. Koks, ein schön schrecklicher Stoff.

Helge Timmerberg heißt der Autor, der jetzt das bisher beste Buch über die Sprungfeder unserer Sehnsüchte geschrieben hat. „Schneekönig“ erzählt die wahre Geschichte von Ronald Miehling, Anfang der Neunzigerjahre Deutschlands größter Kokainimporteur. Kleine Leseprobe: „Ich nahm Rührei, Schinken, kleine Würstchen und durchgebratenen Speck und genoss das Klima und das für die Karibik so typische Licht. Ich muss sagen, das hatte schon was. Aufs Meer hinausschauen, die Dünung beobachten und warten, dass das Kokain billiger wird.“ Alles freie, wahre Sätze, die man lange nicht gelesen hat und die von jemand stammen, der sich selbst Gonzo-Journalist und Abenteurer nennt.

Es ist Sonntagnachmittag, die Sonne lächelt über Berlin, die Stimmung ist sanft. Helge Timmerberg wohnt im Westen Berlins, neben der Hauptstadtvertretung von Mercedes-Benz. Funkelnde Traumautos stehen vor dem riesigen Glaspalast. Daneben eingezwängt zwischen frischen Baugruben ein störender Fleck, zumindest aus Sicht des schwäbischen Autobauers: ein orangefarbenes älteres Haus. Unten ein Puff, darüber ein Steuerberater, mehrere Künstler und Helge Timmerberg. Ein bunter Mikrokosmos des Lebens direkt neben der Welt des New Berlin. Es gibt Kaffee in der schmalen Küche, an den Fliesen kleben Polaroids. Auf jeder Fliese eins. Zu sehen sind unterschiedlichst aussehende Menschen, die offensichtlich auf der ganzen Welt zu Hause sind. Es sind Bekanntschaften, die Helge Timmerberg auf seinen Reisen geschlossen hat.

Auf und über diese Touren, die den Autor in über 190 Länder dieser Welt führten, hat Timmerberg viele schöne Geschichten geschrieben, die oft in Tempo, dessen Stil er mitprägte, und später auch in anderen Magazinen erschienen sind. Sie klingen anders als das, was man sonst lesen kann. Subjektiver, gefühlvoller, wahrer erscheinen sie dem Leser. Keine klassisch szenischen Einstiege verhusten den Atem seiner Reportagen. Anreise, Auftragsbedingungen, Stimmung und Eigenheiten des Autors, oft beeinflusst durch Drogen, sind die ersten Zeilen.

„Gonzo“, das spanische Wort für verrückt, nennt sich diese Art von Journalismus oder auch „New Journalism“. Wie jede Kunst hat auch die des Helge Timmerberg ein Vorbild: Hunter S. Thompson, Verfasser von „Fear and Loathing in Las Vegas“. Gonzo ist die ehrlichste, dichteste und aufregendste Form zu erzählen.

Auffälligstes Charaktermerkmal: die Enttabuisierung des Wörtchens „ich“. Was kann es für den Leser Interessanteres geben, als dabei zu sein, wenn sich ein Autor mit seiner Welt auseinander setzt? Nachrichten sind eine andere Kategorie. Gemeines Unglück, dass es zumindest zur Zeit so scheint, als wäre es den Traditionalisten in den Redaktionsstuben gelungen, diese Form des Schreibens mit dem von ihnen erfundenen Begriff „Popjournalismus“ zu diskreditieren. Jetzt aber liegt ein ganzes Buch voller Zaubersätze vor uns. „Schneekönig“ ist kein Roman, sondern eine Biografie, denn nichts so aufregend ist wie die Wahrheit, so Timmerberg.

Ronald Miehling ist Hamburger, Polizistensohn, Lude, Knacki, aber eine ehrliche Haut. Seine Geschichte erzählt von einem Mann, der Sehnsucht nach dem Abenteuer hat, Geborgenheit bei Frauen, besonders bei Prostituierten sucht und sich dem Seelenkiller des braven Lebens verweigert. Aufregende Arten, seine Tage zu kitzeln, gibt es genug. Als Miehling, der von seinen Freunden Blacky genannt wird, frisch aus dem Gefängnis entlassen, in die Karibik reist, scheint er seinen Spielplatz gefunden zu haben. Auf Curacao gibt es ein Licht, das der Seele schmeichelt, und was Blacky noch besser gefällt: Der Sextourismus floriert, und der Kokaineinkauf ist ein Spiel für große Kinder.

Am Ende der Reise landen zwei Kilogramm reines Kokain sicher auf dem Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel. Abnehmer gibt es genug, Blacky verkauft an so genannte Spaßgesellschaftskunden: Besserverdienende, die den Spaß am Turboprob-Effekt des weißen Magicpulvers schätzen. Alles läuft großartig, Miehling ist dabei. Die Schulden sind weg, das Geld lässt sich bald nicht mal mehr mit Hilfe der verschwendungssüchtigen Ehefrau ausgeben. Die Plastiktüten voller Geldscheine werden nicht mehr gezählt, sondern gewogen. Miehling kauft sich ein Mercedes 500 SL-Cabrio, das jeden Bullenwagen stehen lässt. Bald geht es um Deals mit Kolumbien. Aus zwei Kilo werden 250. Aus ein paar hunderttausend 15 Millionen Gewinn. Blacky heißt jetzt Jag War. Irgendwann fängt die Hatz mit der Polizei an, Jag War überlebt, entkommt am Ende nach Kolumbien. Die Fahnder des BND suchen, finden ihn. Auch sie koksen und huren. Es scheint nur ein Spiel zu geben; ob Bulle oder Drogenhändler, ist nur eine Frage der Perspektive. Am Ende siegt das System. Die Überwachung aller Vertrauten aus Deutschland. Gegen das Heimweh ist noch kein Kraut gewachsen, noch kein Schnee erfunden.

2003 sitzt Ronald Miehling neun Jahre im Gefängnis. Dreieinhalb Jahre bleiben ihm noch. „Dann ist er mit der Gesellschaft absolut im Reinen, hat für alles bezahlt“, sagt Timmerberg und steckt sich eine starke Marlboro an. Das Wort Reue taucht in seinem Buch mit keiner Silbe auf. Was nicht heißt, dass hier ein Priester des Koks vor uns sitzt. „Ich hab inzwischen eine Allergie gegen das Zeugs“, sagt er. „Zwei Jahre geht es ganz prima, man explodiert so richtig, aber dann kommt die Persönlichkeitsveränderung.“

Man glaubt ihm. Hier sitzt jemand, der aus Erfahrung spricht, und die macht manchmal sogar klug. Erscheint in der Sonntagszeitung aus Zürich eine empörte Rezension: „Kein Wort von den Opfern, kein Wort von Wirtschaft und Politik!“, hat Timmerberg sie wahrscheinlich gar nicht gelesen. „Weißt du, ich lese nicht viel, ich schau lieber Filme.“ Wir fragen, welche Texte er heute denn gern liest, falls er liest. „Matussek mag ich, den Christian (Kracht) auch und Tom Kummer, egal was die alle über ihn sagen.“ Punkt. Da gibt es nichts nachzufragen.

Gemein, diese Form des Schreibens als Popjournalismus zu diskreditieren

Dafür: „Gab es nach Tempo noch mal ein vergleichbar tolles Magazin?“ – „Nicht wirklich, nur zeitweise. Die Bunte zu Franz-Josef Wagners Zeiten zum Beispiel.“ – „Können Sie uns erklären, warum es so viele Wagner-Verehrer gibt?“ – „Der Franz ist eigentlich so wie wir, ein Freak und Künstler, aber auch ein starker Machtmensch. Er akzeptiert nur das Beste, jeder Satz muss ein Kunstwerk sein, der hat was gegen das Normale.“

Freak und Künstler, das ist auch das treffende Bild für Helge Timmerberg. Sein Weg: Mittlere Reife mit Ach und Krach, vom Vater zu einer Ausbildung in einem Textilunternehmen gedrängt, dort rausgeflogen wegen den langen Haaren. Auf nach Indien, viel LSD, viel Marihuana. Dort die Erleuchtung: schreiben wollen. Bei einer Lokalzeitung in der westfälischen Heimat die ersten veröffentlichten Texte. Frau, Kinder, alles schön brav. Dann Trennung von der Familie, zum Stern nach Hamburg, Chefredakteur bei Twen, dem Vorbild aller Stadtmagazine, Anruf von Markus Peichl, Chef und Erfinder von Wiener und Tempo. Und heute?

Das Gesicht unter dem immer noch langen Haar zündet sich einen Joint an. Wir schauen einem ehrlichen Hippie in die Augen, der Gänsehaut bekommt, wenn er Tropen und Amazonas hört. „T-r-o-p-e-n, wie das schon klingt“, sagt Timmerberg und lächelt über den Schwarzwald. Da ist er der Abenteurer. „Wenn ich im Urwald unterwegs bin, ist das wie bei einem Formel-1-Fahrer in der Steilkurve“, erklärt er. „High Peak nennt man das.“ Es ist der Moment, der die Zeit festfriert, das Adrenalin pumpt, und die ganze Aufmerksamkeit auf die zu bewältigende Aufgabe lenkt, weil der Kopf weiß, das jeder Fehler schlimme, schlimme Folgen haben wird.

Seit über zwanzig Jahren zieht Helge Timmerberg so über den Planeten, sucht nach der Liebe und dem Glück. Er hat beides gefunden. Und wieder verloren. Deshalb sucht er weiter. Glück ist kein Haustier, das sich gemütlich in die Eigentumswohnung kuschelt. Es kommt, es geht. Je rarer, um so intensiver. Die Glückssuche führt an die dunkelsten Orte: Sterbehospiz, Dschungelbordell, Opernball, Timmerberg war da. Vielleicht braucht er deshalb so wenig Regeln zum Schreiben, weil er das Leben so gut kennt.

Auf dem Nachhauseweg kaufen wir einige neue Presseerzeugnisse und gähnen. All den Verfassern der vielen langweiligen Texte möchte man einen Kuss auf die Backe drücken und ihnen vielleicht folgendes Funkadelic-Zitat auf die Brust tätowieren: „Free your ass and your mind will follow.“

Helge Timmerberg, Ronald Miehling: „Schneekönig“. Rowohlt Berlin 2003, 156 Seiten, 16,90 €