Losungsgesättigte Gesichter

Der erste Ökumenische Kirchentag ist vorbei. Bleibt die Erkenntnis: „Religion ist heilbar!“

Die demonstrative Reizlosigkeit des Christen ist eine besonders ehrgeizige Form der Eitelkeit

Christen erkennt man sofort. Sie müssen gar keine bunten Bänder tragen – ihre losungsgesättigten Gesichter sprechen eine überdeutliche Sprache. Sandalenhaft-rucksackig und fast immer im Tross sickerten schon am Mittwoch die ersten Christen in die Stadt ein. Ich sah sie und fragte mich still: Warum sehen die alle aus wie nasse Brote? So teigartig, knetbar und glattwangig? Die demonstrative Reizlosigkeit des Christen ist eine besonders ehrgeizige Form der Eitelkeit. Sogar der Unattraktivität verleiht sie noch etwas Selbstgefälliges.

Ich laufe keinem Christen nach, um mich anschließend an ihm zu erhitzen. Die machen ihrs, ich meins, fertig, und ich mache sogar gerne einen großen, Christen vermeidenden Bogen und nehme Umwege in Kauf. Das Wesen des Christen aber ist es, anderen auf die Pelle zu rücken, und so liefen sie mir ständig vor die Füße. Wohin ich auch floh, der Christ kam hinterdrein. Ich bin im Laufe der Jahre fast ekelerregend tolerant geworden – das hat mit der Einsicht zu tun, dass die Glaubetrottel aller Fraktionen die Beschäftigung mit ihnen nicht lohnen. Für wen es ein Problem ist, dass Gläubische nicht mit anderen gemeinsam an einer Oblate lutschen dürfen, für den ist das eben ein Problem. Die Zivilisation hat sich noch nicht zu allen durchgesprochen.

Die Emmauskirche, neben der ich wohne, war für die Dauer des Kirchentags zum so genannten Themenzentrum geworden. „Den Sterbenden ein Segen sein!“ wolle man, hieß es auf einem großen Transparent. Nicht jeder reagierte auf den erklärten Wunsch, selbst völlig Wehrlose noch anzufrömmeln, so duldsam wie ich. Günter Pfitzmann legte sich aus Protest zum Sterben. Ich verstand den Zorn des alten Mannes: Das nekrophile Christenverlangen kann einen schon auf die Palme bringen, und wenn es die letzte ist.

Eine Künstlerin hatte dutzendweise lakengroße weiße Stofflappen auf die Erde gelegt, um den „Opfern sinnloser Gewalt“ ein Denkmal zu setzen, wie es auf einer Tafel hieß. Während mich die Frage beschäftigte, ob es eigentlich auch Opfer sinnvoller Gewalt gibt, entdeckte ich auf der Tafel einen kleinen Aufkleber: „Religion ist heilbar!“ Den musste ein Optimist hinterlassen haben.

Am Donnerstag wurde das Treiben an der Emmauskirche gewaltig. Eugen Drewermann kam zum Predigen direkt vor meinen Balkon. Während der reisende Pulloverchrist nur eine Blumentopfwurfweite von mir entfernt ein paar tausend alte Tanten verzückte, erhöhte sich mein Trostbedarf minütlich. Zuverlässig wurde ich fündig bei Oscar Wilde: „Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken.“

Als Drewermann endlich zu Potte gekommen war, fingen seine Fans das Singen an – ein evangelisch klingendes, halsabwärts totes Piepsgesinge ohne jeden Soul war zu vernehmen, und sichtlich verstörte Vögel verließen fluchtartig die Bäume. „Das war an Christi Himmelfahrt / Herr Jesus wurde mitgegart / und blubberte im Sud“, küchendichtete ich, während ich am Herd stand, dem närrischen Geflöte und Gepfeife draußen etwas Handfestes entgegensetzte und überlegte, ob man, nur um des Reimes Willen, Putengott und guten Pott in ein Ablöschungsverhältnis bringen dürfe. Ich verwarf die alberne Idee und beendete mein Küchenliedchen so: „Ich war so gut zum Gottessohn / Und garte ihn für Gotteslohn / Und ließ den Jesus ziehn.“

Und während der sich hinzog und ich meinen Besuch erwartete, rekapitulierte ich die Begegnung mit Ernst Benda, Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags in seinem Haus in Karlsruhe-Durlach im August 2002. Das evangelische Monatsmagazin chrismon hatte ein Gespräch zum Thema „Witze über Gott“ organisiert, es moderierte der Redakteur Axel Reimann, auf dessen Karte als Berufsbezeichnung „Editor’s Desk“, stand, Schreibtisch des Herausgebers, was ich, gerade für eine christliche Zeitschrift, hart verdinglicht fand. Reimann hatte eine Schreibkraft dabei, auch der anwesende Fotograf war mit einem Assistenten angereist. Es war ein warmer Tag, und die Angelegenheit dauerte drei Stunden – und Ernst Benda bot seinen fünf Gästen nicht einmal ein Glas Wasser oder eine Tasse Kaffee an.

Auf christliche Nächstenliebe ist gepfiffen – ihren Selbstdarstellungskokolores können die Jesuslatscher für sich behalten. Wer aber die gute alte Gastfreundschaft nicht kennt, die so viel älter ist als aller Christenkrempel, der muss sich fragen lassen, was er auf dieser Erde eigentlich so macht.

Auch Kirchentage gehen vorbei. Dann fahren die Christen wieder in ihre jeweiligen Heimaten und erhöhen dort die Nassbrotdichte. Wenn mich einmal hungert und dürstet, dann weiß ich, an welche Türen ich nicht klopfe. WIGLAF DROSTE