„Unreiner Geist, weiche!“

Vor 25 Jahren endete der „Aschaffenburger Exorzistenprozess“ gegen zwei Geistliche und die Eltern des Opfers wegen fahrlässiger Tötung. Die katholische Kirche beschäftigt noch heute hunderte Exorzisten

von ANDRÉ PARIS

Als Oberstaatsanwalt Karl Stenger den Telefonhörer auflegt, schüttelt er den Kopf. Dann überlegt er, ob er gerade Opfer eines Scherzes seiner Kollegen geworden ist. Exorzismus? Vor einer Stunde war das für ihn ein Fremdwort. Dämonen? An diesem Nachmittag des 1. Juli 1976 ahnt er nicht, dass er bald Hauptankläger im „Fall Klingenberg“ sein wird, einem der obskursten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik. Über den Inhalt des bizarren Anrufs macht sich Staatsanwalt Stenger schließlich Notizen: Ein Pfarrer Alt habe ihn angerufen und behauptet, er habe einen so genannten Exorzismus an einem in Klingenberg am Main wohnhaften Mädchen praktiziert. Auf Nachfrage erklärt der Pfarrer, dass es sich beim Exorzismus um eine „Teufelsaustreibung“ handelt und dass das besagte Mädchen gerade verstorben sei.

„In Deutschland ist der Teufel los!“, titelt in den Folgetagen eine Zeitung und beschreibt dadurch die Anteilnahme, die der Tod der Anneliese Michel weltweit auslöst. Kurze Zeit vorher, Ende 1974, war der US-Horrorfilm „Der Exorzist“ von William Friedkin auch in deutschen Kinos angelaufen. Er schildert das Leiden einer Zwölfjährigen, die nach Krampfanfällen zunehmend aggressiv auf ihre Umwelt reagiert. Sie verändert ihre Persönlichkeit, verletzt sich und andere, stößt Obszönitäten aus und spricht in fremden Sprachen. Von der satanischen Besessenheit des Mädchens überzeugt, versucht ein Jesuitenpater in exorzistischen Sitzungen, ihm den Teufel auszutreiben.

Der Film suggeriert: Das Böse existiert. Zum Beispiel in Form eines Dämons, von dem die Leidende besessen sein soll. In Deutschland löst der „gruseligste Film aller Zeiten“ eine Welle abergläubischer Hysterie aus. Psychiater berichten in dieser Zeit vermehrt von durch den Film hervorgerufenen Zwangsvorstellungen ihrer Patienten. Das Zeitalter der Aufklärung ist auf eine harte Probe gestellt.

Entsprechend laut ist der Aufschrei, als im Juli 1976 die Umstände bekannt werden, unter denen die damals 23-jährige Pädagogikstudentin Anneliese Michel starb. Parallelen zum Film drängen sich auf. Auch für die Ermittler scheint die Sachlage derart bizarr, dass es noch fast zwei Jahre dauert, bis der „Fall Klingenberg“ vor Gericht verhandelt werden kann. Angeklagt sind die Eltern des Opfers sowie Pfarrer Ernst Alt und Pater Arnold Renz. Der Tatvorwurf: fahrlässige Tötung. Die Hauptfrage: Was hat den Tod der Anneliese Michel verursacht?

Angefangen hat es wohl 1968. Bis dahin verhält sich Anneliese wie viele Mädchen aus streng katholischen fränkischen Familien: Sie geht zweimal wöchentlich zur Messe, betet Rosenkränze und will Lehrerin werden. Eines Nachts erleidet sie einen Anfall: Sie ist gelähmt, wird durchgeschüttelt. Weder ihre Eltern noch ihre drei Schwestern kann sie zu Hilfe rufen. Ein Neurologe diagnostiziert eine schwere Epilepsie vom Typ Grand Mal. Nach längerem Krankenhausaufenthalt erscheinen ihr beim täglichen Rosenkranzbeten Teufelsfratzen, die sie von 1970 bis zu ihrem Tod verfolgen.

Obwohl viele Neurologen eine psychotherapeutische Ausbildung haben und Depressionen, die nach Epilepsien auftreten, rechtzeitig erkennen müssten, fand diese Diagnose bei Anneliese Michel nicht statt. Im Herbst 1970 besucht sie wieder das Gymnasium. Mitschülerinnen beschreiben Anneliese Michel als „zurückgezogen und sehr religiös“. Während andere Mädchen die Freiheit der Siebzigerjahre genießen, glaubt Anneliese, besessen zu sein. Anders kann sie sich die teuflischen Fratzen, die sie verfolgen, nicht mehr erklären. Dazu kommen jetzt Stimmen, die ihr sagen, sie sei verdammt und werde „in der Hölle schmoren“.

Schuld, Buße, Sühne, das sind Begriffe einer Religion, mit der Anneliese aufgewachsen ist. Opfer, Sünde, Leiden, jedes Erlebnis muss in einen religiösen Zusammenhang gebracht werden. Anneliese baut eine Leidenserwartung auf. Denn leiden mussten auch die vielen Heiligen, die sie täglich anbetet. Trotzdem denkt sie an Selbstmord. Die Depressionen werden stärker. In den Arztbesuchen, die keine Linderung verschaffen, sieht sie keinen Sinn mehr. Nur einmal, da ist sie bereits volljährig, versucht sie, einem Arzt von den „Dämonen“ zu erzählen, die ihr inzwischen sogar Befehle erteilen. Danach schweigt sie. Zu groß ist die Kluft zwischen der nüchternen Analyse der Humanmedizin und ihrer katholischen Weltanschauung. Fortan umschreibt sie Ärzten ihr Problem mit „Auseinandergerissenheit“ oder „nicht sich selbst sein können“.

Ab Sommer 1973 ersuchen ihre Eltern verschiedene Pfarrer um eine Teufelsaustreibung. Die katholischen Geistlichen lehnen dies ab und empfehlen die weitere fachmedizinische Behandlung der jetzt zwanzigjährigen Pädagogikstudentin. Die Feststellung einer „Besessenheit“ (infestatio) sei streng geregelt und bedeute, dass Dämonen Besitz vom menschlichen Körper ergriffen haben. Aversionen gegen religiöse Gegenstände und „übernatürliche Kräfte“ könnten erste Anzeichen dafür sein. Erst wenn alle Besessenheitskriterien erfüllt seien, könne die bischöfliche Genehmigung für den Exorzismus erteilt werden.

1974 beantragt der Anneliese betreuende Pfarrer Ernst Alt beim Würzburger Bischof eine solche Genehmigung. Erneut wird das Gesuch abgelehnt. Pfarrer Alt empfiehlt der enttäuschten Anneliese einen noch strengeren, noch religiöseren Lebensstil und rennt offene Türen ein. „Ich bin nichts, alles an mir ist Eitelkeit, was soll ich tun, ich muss mich bessern, beten Sie für mich“, schreibt sie ihm Anfang 1975.

Die vom Gericht bestellten Psychologen werden später von „doktrinärer Induktion“ sprechen: „Die Priester haben Anneliese die Inhalte und Formen psychotischen Verhaltens angeboten. Folglich haben sie dieses Verhalten einer vom Teufel besessenen Person später akzeptiert.“ Sowohl eine gestörte sexuelle Entwicklung als auch die diagnostizierte Schläfenlappenepilepsie beeinflussten, so das Resümee der Ärzte, Annelieses Psychose.

Kritik und Zweifel an den autoritären Eltern muss sie unterdrücken, dadurch wird sie aggressiv: Sie schlägt Jesusbilder von der Wand, zerfetzt Rosenkränze, zerschmettert Kruzifixe. Im Klingenberger Elternhaus reißt sie sich die Kleider vom Leib, uriniert auf den Fußboden und beschimpft, schlägt oder beißt Familienmitglieder. Stundenlang brüllt und tobt sie. Nachts schläft sie nackt auf dem Steinboden. Mahlzeiten verweigert sie, da ihr „die Dämonen verbieten“, davon zu essen. Stattdessen kaut sie Spinnen, Fliegen oder Kohle und trinkt ihren Urin. Oft rast sie durchs Haus, wälzt sich auf dem Boden und fügt sich schwere Verletzungen zu. Zwischendurch lassen die Anfälle nach. Fremden gegenüber bleiben sie fast aus. Manchmal passiert wochenlang nichts, dann studiert sie an der Pädagogischen Hochschule in Würzburg und geht zur Kirche, als sei nichts passiert.

Im September 1975 beauftragt der Würzburger Bischof Josef Stangl „nach reiflicher Überlegung und guter Information“ den Salvatorianerpater Arnold Renz, an Anneliese Michel einen großen Exorzismus durchzuführen. Eigentlich ist dies nichts anderes als eine festgelegte Folge von Gebeten, Anrufungen und Beschwörungen, durch die der Teufel vertrieben werden soll. Neun Monate vor Annelieses Tod wird der Exorzismus erstmals in ihrem Elternhaus praktiziert. Anwesend sind auch ihre drei Schwestern, Pfarrer Alt und ein Ehepaar, das beansprucht, Anneliese „entdeckt“ zu haben.

Es wird gebetet und das Kruzifix geschwenkt, Vaterunser, Ave Maria. Zwischendurch werden Erfrischungen und Kuchen gereicht. Anneliese brüllt und tobt, besonders wenn Weihwasser fließt, sie will beißen und schlagen, von drei Männern muss sie gehalten oder gefesselt werden. Anneliese flucht: „Scheißkerl, Drecksau, hör mit dem Dreckszeug auf.“ Es entstehen über vierzig Tonbandprotokolle.

Vor Gericht werden die Exorzisten zu beweisen versuchen, dass die Dämonen sich namentlich zu erkennen gegeben haben: Judas, Hitler, Luzifer, Nero, Kain und ein verstorbener fränkischer Pfarrer. Von September 1975 bis Juli 1976 werden ein bis zwei Sitzungen pro Woche abgehalten.

Pater Renz und Pfarrer Alt versuchen, die sechs Dämonen durch Gebete, Gespräche und Weihwasser zu reizen, auf dass sie Anneliese verlassen: „Hitler, unreiner Geist, ich befehle dir, von dieser Dienerin Gottes zu lassen! Wann wirst du ausfahren?“ Seltsam genug, dass der angerufene Österreicher dem Pater in fränkischem Dialekt und durch Annelieses Mund antwortet: „Du alte Drecksau, ich geh nit naus, da kann’s noch lange dene Scheißzeug daherplappern.“

Viele dieser auf Tonband dokumentierten Dialoge wirken tragikomisch. Sind den Anwesenden in diesen neun Monaten denn niemals Zweifel gekommen? Auch nicht als zwei Dämonen sich wie Pubertierende darüber streiten, wer von ihnen zuerst „ausfahren“ soll? Anneliese wollte nicht „in einer Irrenanstalt ruhig gestellt und zwangsernährt werden“, sagt ihre Schwester später vor Gericht, als hätte es zwischen kleiner Zwangsjacke und großem Exorzismus keine Lösung gegeben.

Neben den wöchentlichen Sitzungen in Klingenberg legt Anneliese die Abschlussprüfungen an der PH Würzburg ab. Immer häufiger jedoch ist sie bewusstlos, gelähmt oder von Zwängen geplagt. Die letzten Monate ihres Lebens verbringt sie im Haus der Eltern. Wochenlang verweigert sie die Nahrungsaufnahme. „Die bringen mich um“, klagt sie über das, wovon sie sich „besessen“ fühlt. Ihre Knie sind aufgeplatzt, weil sie während der Exorzismen bis zu sechshundertmal dem Zwang nach Kniebeugen nachgibt. „Ich will auch für andere Leute leiden … aber dass das so grausam ist“, hatte sie Pfarrer Alt einmal anvertraut.

„Sie hat das Leid anderer auf sich genommen und ein Sühneopfer erbracht. Es war eine atemberaubende Erfahrung“, wird ihr ehemaliger Seelsorger später aussagen. Beim letzten Exorzismus am 30. Juni 1976 ist Anneliese Michel bereits völlig abgemagert. Sie hat eine Lungenentzündung und hohes Fieber. Auf die zwanghaft schnellen Kniebeugen kann sie trotzdem nicht verzichten. Ihre Eltern stützen sie dabei. „Bitte um Lossprechung“, ist der letzte Satz, den sie an den Exorzisten richtet. Dann: „Mutter, ich habe Angst.“

Am Morgen des 1. Juli 1976 gegen 8 Uhr stellt Anna Michel den Tod ihrer Tochter fest. Gegen 13.30 Uhr verständigt Pfarrer Ernst Alt die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg. Oberstaatsanwalt Stenger ermittelt. Die Obduktion ergibt, dass Anneliese Michel verhungert ist. Wegen „fahrlässiger Tötung durch Unterlassung“ werden die Eltern, Pater Renz und Pfarrer Alt im April 1978 zu dreijähriger Haft auf Bewährung verurteilt. Die Angeklagten hätten für medizinische Hilfe sorgen müssen, stattdessen haben sie durch „naive Praktiken“ den Zustand der Erkrankten verschlimmert.

Eine von der Deutschen Bischofskonferenz eingesetzte Kommission gibt wenig später bekannt, dass Anneliese Michel „nicht besessen“ war. Trotzdem bleibt ihr Grab ein Wallfahrtsort. Nicht einmal nach dem Tod kehrt Ruhe ein: Anneliese Michels Körper wird anderthalb Jahre nach der Beisetzung noch einmal exhumiert, weil sich der Wunderglaube hält, er verwese nicht. Er tut es doch. Für die Rosenkranz betenden Pilger steht bis heute fest: „Sie hat den Teufel besiegt.“

ANDRÉ PARIS, 34, lebt als freier Autor in Berlin