Der Porno, der verpuffte

Heute erscheint Thor Kunkels Roman „Endstufe“. Was schon im Vorfeld über den Inhalt zu erfahren war, sorgte für hitzige Debatten in den Feuilletons – und machte vor allem neugierig. Doch nach Lektüre der kruden Story um Nazis, Pornografen und Wissenschaftler bleibt nur Irritation – und von der Empörung nicht viel übrig

VON GERRIT BARTELS

Das 21. Jahrhundert, suggeriert allein der Vorspann von Thor Kunkels Roman „Endstufe“, ließ sich schon 1941 in so manchen Einzelheiten gut erkennen. Überall Schleuderpreise, „primitivste Leibchen, Trainingswesten, schlabberige Hosen ohne Schnitt“ und die Parole „Just Do It“, überall Reizwäsche und Bauchnabeldekolletees auf Berlins Straßen – all das sieht der Frauenarzt Waldemar F. Pfister in einem Traum, um daraus in einem Brief weitergehende Erkenntnisse abzuleiten: „Die utopische Dimension des pornografischen Films wird mir erst heute bewusst. Seine unterschwellige Heilsbotschaft besagt ja, dass das Fleisch eines Tages Wort werden könnte. Steht die Zukunft im Zeichen der Sexistenz? Ist der Übermensch– das kommende Wesen– nur eine Drohne?“

Fragen über Fragen, Spekulationen über Spekulationen („Stellen Sie sich vor, sexuell bestimmte Politik könnte diese in viele Lager zerfallene Welt befrieden“), die allesamt gleich zu Beginn ebenfalls eine Frage aufwerfen: Ist das nicht alles ein zwar provokativer (Nazis! Pornos! Rassenwahn!), zuweilen, wie sich zeigen wird, nicht gerade leckerer und lustiger, über weite Strecken aber großer Quark und Quatsch? „Die utopische Dimension des pornografischen Films?“, „Die Zukunft im Zeichen der Sexistenz?“

Aber nicht nur dass Kunkel, wie der Vorspann beweist, sein Buch durchaus als Gegenwartsroman begreift, als „Vision“, und sein Lektor Wolfgang Hörner das bei der Vorstellung des Romans auf der Leipziger Buchmesse mit Hinweisen auf die Gen- und Stammzellforschung sowie der Big-Brother-Show zusätzlich unterstrich – allein die Aufregung, die Kunkels heute erscheinender Roman „Endstufe“ zumindest im Literaturbetrieb und den angeschlossenen Feuilletons schon verursacht hat, zeigt: Nein, so eine Frage ist nicht statthaft, nein, dieses Buch ist eine bitterernste Angelegenheit.

Bekanntlich hatte der Rowohlt Verlag es aus dem Programm genommen, weil ihm anscheinend die Thematik, die Verbindung zwischen Nazis, Pornografie und Wissenschaft, und die Aufbereitung durch Kunkel zu brisant geworden war; es folgten Interpretationen eines Buches, das kaum jemand gelesen hatte, und es kam zu zahlreichen Verwerfungen. Die gingen so weit, dass der Spiegel unter Zuhilfenahme älterer, lange verworfener Passagen des Manuskripts Thor Kunkel als Rechten, gar potenziellen Auschwitzleugner beschimpfte, dieser wiederum in Interviews und offenen Briefen gegen sein Böser-Bube-und-latenter-Neo-Nazi-Image ankämpfte und mit seinem neuen Verlag Unterlassungserklärungen erwirkte.

Alles unschöne Begleiterscheinungen eines Buches, in dessen Klappentext Kunkel nun erklärt: „Ich benutze die Pornografie als poetische Metapher, um das Phänomen Drittes Reich vollständig zu erfassen.“ Mag sich nun in dem Wörtchen „vollständig“ ein Anflug von Größenwahn verbergen, auch in den Widmungen unter anderem für Jesus, Nietzsche und Mohammed, und mag so der Verdacht aufkommen, dass Kunkel sich vielleicht wirklich verhoben hat – während der Lektüre von „Endstufe“ hat man über weite Strecken eher den Eindruck von einem durchaus unterhaltsamen und wirren Trash-und Kolportage-Roman. Ein Roman, den man als Kritik an einer Wissenschaft verstehen kann, die aus dem Ruder gelaufen ist, ein Roman, der aber immer wieder ins Groteske, Absurde und Komische kippt und den eigenen Irrsinn gegen den Irrsinn des Nationalsozialismus setzt. Und der nicht zuletzt einigermaßen schlüssig komponiert ist, zugleich aber auch überladen wirkt mit seiner Einteilung in große, mittlere und zahlreiche, stets mit einem politischen oder literarischen Zitat versehenen kleinen Kapitel: So legt Kunkel laufend Spuren, verwischt sie aber auch immer wieder im großen Zitatismus und Geraune. Die Hauptfigur, der SS-Hygiene-Institutsangestellte Karl Fußmann, ist bekennender Sozialdarwinist und anfällig für Ideen vom „Nichtmenschen“, „Maschinenmenschen“ und der „magnetischen Seele“, genauso aber besessen von Stiefeln, Sex und Sinnlichkeit. Irgendwann erkennt er: „Nicht die Todesangst, sondern die Lust zu leben ist der Antriebsmotor der Evolution. Das Schönste, zu dem die Schöpfung fähig war, ist die Liebe.“

Fußmann ist die Karikatur eines NS-Forschers, ein Hans Wurst auf der Suche nach der ultimativen sexuellen Verschmelzung, die er mit der jungen Prostituierten Lotte zu finden glaubt. Die Begegnung mit Lotte lässt ihn zum unfreiwilligen Hauptdarsteller in einem Sexfilm werden und treibt ihn in die Kreise geldgieriger Drogisten, Bohemiens und Décadents, „die Porsche und Mercedes fahren, um ihre Weltoffenheit und Individualität zu betonen“, und die alles andere als überzeugte Nazis sind.

Die Produktion dieser Filme, die tatsächlich existiert haben, und ihr Vertrieb insbesondere nach Nordafrika bilden Dreh- und Angelpunkt von „Endstufe“. Folglich geht es hier bevorzugt um Sex und noch mehr Sex. Kunkel schreibt Penthouse-Fortsetzungsroman-Sätze wie „Ihre Schamlippen öffneten sich wie die Schnabelzangen einer auf Lobotomie spezialisierten Chirurgin“ oder „Sie fühlte seine Hände unter ihrem Gesäß und den harten Stoß“; Kunkel dreht bunte Pornoszenen im Wald; und Kunkel verliert sich in einem deftigen „Lotterleben“-Kapitel mit Fußmann im „Germanischen Harem“. Schließlich mündet das Ganze in eine abenteuerliche Verbrecherklamotte, deren Schauplatz Afrika ist und die sich in grotesken C-Movie-mäßigen Purzelbäumen gefällt.

Der Bruch vollzieht sich ziemlich abrupt. Plötzlich herrscht auch Krieg in Deutschland, nicht nur anderswo auf der Welt; plötzlich blendet sich die Realität des Krieges auch ins Sex-and-Crime-Spiel. Der Feuersturm in Hamburg, die alliierten Bombenangriffe: Schaffte Kunkel es zu vier Fünfteln seines Buches, die Schrecken des Naziregimes und gerade auch den Holocaust zu ignorieren und sie höchstens anzudeuten („die Verfolgung der Juden hielt man zwar für einen Skandal, aber als Thema passé“), so hat er auf einmal ein saftiges Vokabular für den Schrecken der alliierten Angriffe. Da „verbrutzelten“ Menschen, da „verschmorten zwanzigtausend Menschen innerhalb einer einzigen Nacht“, da „wurde Karlsruhe buchstäblich eingeäschert“.

Vollends in Schieflage gerät „Endstufe“, als in dem mit „Desinfiziert“ betitelten Kapitel die Russen Berlin erreichen, „und was danach abläuft, lässt sich nur als gnadenlose Fließbandarbeit von samenden Automaten bezeichnen“. Kunkel schützt sich zwar noch mit einem Flugblatt-Zitat von Ilja Ehrenburg: „Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frau. Nehmt sie als rechtmäßige Beute“, kennt dann aber als auktorialer Erzähler kein Pardon mehr. „Treibjagd auf Frauen“, „Rudelbumsen“, „Orgie im Schuttbett der Straße“, um nur einiges zu nennen, da „läuft in den Seitenstraßen ein Pornofilm der übelsten Sorte“, in dem sich auch Kunkels Figuren wiederfinden und nur mittels eines Pornofilms entkommen.

Porno gegen Porno? Oder Porno nicht gleich Porno? Entnazifizierung durch Vergewaltigung? Der Angriff der Kriegsgegenwart auf das Leben von Kunkels Helden? Kunkel verlässt hier die Bahnen der wohl kalkulierten Kolportage und schießt mit „seinem Blick in das Innere des Faschismus“ (Klappentext) weit übers Ziel hinaus. Jetzt hat er den bösen Menschen überhaupt im Visier, und man weiß: Ja, auch die Alliierten und die Russen waren böse. Und wie! Möglicherweise böser als die Nazis.

Was den Aufbau des Romans betrifft, mag das einen gewissen Sinn ergeben, erst Lotterleben in der Nischengesellschaft, plötzlich Krieg, diese Drastik irritiert dann aber doch. Nun muss man Kunkel deshalb nicht gleich als Revisionisten hinstellen. In dem Trend von „Deutschland einig Opferland“ liegt er damit allemal, im Trend der Erinnerungsromane und Autobiografien von Tanja Dückers bis Wibke Bruhns. Diese sind zwar im vollen Bewusstsein des Holocaust geschrieben, erwähnen ihn aber auch nur hilflos am Rande, denn: Man hat ja so wenig gewusst, man hat ja so wenig mitbekommen. Kunkel verfährt nach derselben Logik, schockt, provoziert und setzt noch einen drauf, indem er schreibt: „Aber ausgerechnet der Führer hat sich längst aus dem Staub gemacht. Durch ein kleines Loch in der rechten Schläfe, wie es heißt“. Ja, die armen, verführten Deutschen, die armen Fußmanns und Lottes, diese betrogenen Betrüger. Man bekommt nach diesen Passagen eine Vorstellung davon, wo die Differenzen zwischen dem Autor und dem Rowohlt Verlag lagen und Letzterer schließlich den Roman nicht veröffentlichte. Der Rest ist Ausschwimmen: Lotte und Fußmann in Las Vegas bei „Sieg-Geil-Shows“, einer Mischung aus Freak- und Sexshow, aus Obskurantismus und religiösem Sektierertum.

Noch Fragen? Nur noch eine: ob es nach Erscheinen von „Endstufe“ auch noch ein Buch sein wird, „über das alle reden“ (Verlagswerbung). In Leipzig redeten bei der ersten Vorstellung nur die wieder drüber, die es vorher schon ausgiebigst getan hatten: die Journalisten. Publikum war fast keines da.

Thor Kunkel: „Endstufe“. Eichborn, Berlin 2004, 586 S., 24,90 €