Die falsche Norm

Geschlechterpolitik ist out, alle Minderheiten verdienen Förderung: Schwule, Migranten, Frauen. So gelten Männer weiter als das, was sie gar nicht mehr sind: der Normalfall

Frau fühlt sich bisweilen an die Anfänge der Frauenbewegung erinnert

Schon vor Jahren erkannte die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung: Frauenpolitik ist out; um die Gesellschaft zukunftsfähig zu gestalten, ist nicht „Frauenfreundlichkeit“, sondern „Geschlechtergerechtigkeit“ angesagt – auch die Lebenssituationen von Männern müssten zum gesellschaftspolitischen Thema werden. 1999 beschloss das Bundeskabinett, „Gender Mainstreaming“ zum durchgängigen Leitprinzip des Regierungshandelns zu machen. Nicht mehr „Frauenförderung“, sondern die Gleichstellung von Frauen und Männern soll als „Querschnittsaufgabe“ in allen Ressorts verankert werden. Die Bundesregierung folgte damit Vorgaben aus Brüssel. Ein einleuchtender Gedanke, rückt doch so „Frauenpolitik“ aus den Randbereichen, in denen sie als „Gedöns“ ein kümmerliches Dasein fristete, ins Zentrum politischen Handelns. So weit zumindest die Theorie.

Während in Ministerien und Verwaltungen untere Chargen noch über die Bedeutung von Gender Mainstreaming rätseln oder das Konzept schlicht ignorieren, warten überraschenderweise einige Großkonzerne mit ihrer eigenen Variante des Mainstreaming auf.

Nachdem sich die Privatwirtschaft jahrelang mit „Gleichstellung“ schwer tat, unbezahlten Mutterurlaub, wonach Frauen meist endgültig vom Arbeitsplatz verschwanden, als „Frauenförderung“ verkaufte, nun plötzlich die Erkenntnis, dass unterschiedliche Kreativitätspotenziale von Frauen und Männern, Einheimischen und MigrantInnen, Homo- und Heterosexuellen, Jungen und Alten der Produktivität eines Unternehmens durchaus gut tun. Und daher Angehörige aller dieser Gruppen gleiche Chancen bei Einstieg und Aufstieg haben sollen. „Managing Diversity“ nennt sich das, stammt aus den USA und gilt als modernes Personalentwicklungskonzept.

Auch die Frauenfalle schlechthin, die einseitig Müttern auferlegte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, scheint durch einen Anglizismus entschärft: Work-Life-Balance heißt es jetzt, weil auch Männer entdeckt haben, dass es außer Beruf und Karriere noch andere lebenswerte Tätigkeiten gibt, für die man Zeit braucht: Sport und Hobbys, ehrenamtliche Arbeit und Fortbildung. Und, na ja, Kinder und Familie.

Die englischen Begriffe klingen neutraler, netter, nicht so dramatisch-feministisch wie die Forderungen nach Gleichheit, Frauenförderplänen oder gar Quoten. Die neue Begrifflichkeit erkennt an, dass auch Männer vom Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern betroffen sind. Zum Beispiel sterben sie im Schnitt sieben Jahre früher.

Irgendwie wirkt es auch entlastend, wenn die leidige Frauenfrage nach über 200 Jahren Exoten-Status im politischen Mainstream ankommt. Nicht nur auf Frauen, denen es schon immer ein bisschen peinlich war, etwas nur für sich zu fordern. Leider auch auf Bürgermeister, Behördenchefs und Personalverantwortliche allerorten, die jetzt glauben, die Etats der Frauenbeauftragten zusammenstreichen und deren Forderungen neutralisieren zu können. Falls man die Gleichstellungsstellen mit dem Verweis auf das Gender Mainstreaming nicht gleich ganz einspart.

Die Frauen sollten sich mit ihren Anliegen in die proletarische Einheitsfront gegen den Kapitalismus einreihen, lautete die Antwort von Maoisten und Stamokap-Linken auf die beginnende feministische Aufmüpfigkeit der Siebzigerjahre. Eine Tagung des NRW-Ministeriums für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie zur „zielgruppenübergreifenden Antidiskriminierungsarbeit“ Anfang Februar in Bochum bescherte einigen Anwesenden ein Déjà-vu-Erlebnis: Die Ausgrenzungsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten seien strukturell ähnlich, egal ob Schwule, Behinderte, MigrantInnen, alte Menschen oder Frauen diskriminiert würden, so NRW- Frauenministerin Birgit Fischer.

Ein so genannter horizontaler Ansatz soll die Ursachen der Feindseligkeit erkennen helfen, die Kräfte der betroffenen Gruppen bündeln und ein gemeinsames Vorgehen ermöglichen. Frau fühlte sich in Bochum bisweilen an die Anfänge der Frauenbewegung erinnert, als Institutionen auf unsere Forderungen nach dem Motto „Jetzt müssen wir mal was für Frauen und andere Behinderte tun“ reagierten.

Hintergrund des horizontalen Ansatzes sind auch diesmal wieder Vorgaben aus Brüssel. Zwei Richtlinien zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung warten darauf, in bundesdeutsches Recht umgesetzt zu werden. Ebenso wie eine Novelle der Richtlinie gegen die arbeitsrechtliche Diskriminierung von Frauen.

Da liegt aus der Sicht der Regierungen der Gedanke nahe, diese ganze lästige Randgruppenproblematik in einem Aufwasch zu erledigen. Auch die betroffenen Gruppen sehen Vorteile: Nicht jede Interessengruppe müsse für sich immer mal wieder eine Kampagne durchführen oder Lobbybesuche in den Ministerien abstatten – gemeinschaftlich könne man mehr Druck machen für ein „ganzheitliches“ Antidiskriminierungsgesetz, argumentiert beispielsweise das von der EU geförderte „Horizontal Project for Integration“. Auch verhindere der horizontale Ansatz einen Wettlauf der Diskriminierten um den Nachweis, wer am schlimmsten benachteiligt sei.

Die englischen Begriffe klingen netter, nicht so feministisch wie die Forderungen nach Gleichheit oder Quoten

Bevor nun die Frauenfrage vollends in den so genannten ganzheitlichen politischen Ansätzen für mehr Offenheit, Toleranz und Zugangsrechte verschwindet, muss an ein paar ältere Erkenntnisse der Frauenbewegung erinnert werden: Frauen sind keine Randgruppe, sondern die Mehrheit der Gesellschaft. Eine immer kleiner werdende Minderheit stellt dagegen jene Sorte „Normmensch“ dar, von der Frauen und Randgruppen abweichen, nämlich junge bis mittelalte einheimische, nicht behinderte, heterosexuelle Männer weißer Hautfarbe.

Dass just diese Minderheit sich als Norm darstellt, ist der patriarchalen Struktur der Gesellschaft geschuldet. Denn nach dem Urmuster der Unterscheidung: Mensch (Mann) – Nichtmann (Frau) basiert die Gesellschaft auf dualen Gegensätzen, die über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit entscheiden, über Dominanz oder Unterordnung. Die Spur der Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter färbt ab auf das Verhältnis des Normmenschen zu anderen Menschen mit abweichenden Merkmalen; auch diese werden in der einen oder anderen Form als minderwertig erachtet. Aber mit der Konstruktion immer neuer Betroffenengruppen, die ihre Identität auf der Basis von Ausgrenzungserfahrungen aufbauen, bestätigen wir lediglich den Normmenschen in seiner Normalität, statt ihn zu demontieren. Ein zielgruppenübergreifender Ansatz kann nur gelingen, wenn das patriarchale Grundmuster der Ausgrenzung im Auge behalten wird: das Dominanz-Unterordnungs-Verhältnis zwischen den Geschlechtern.

CLAUDIA PINL