Die Welt der Pirahã-Indianer: Ein Leben ohne Angst und Sorgen

Die Pirahã-Indianer kennen weder Gott noch Götter. Auch keinen Besitz oder absolute Werte. Abseits der modernen Welt führen sie ihr unbeschwertes Dasein.

Im Amazonasgebiet sieht nicht nur für die Pirahã-Indianer alles grün aus. Bild: imago/Photoshot/Evolve

Die ganze Welt ist dem Geld und der (Zeit-)Logik unterworfen. Nein, nicht ganz: Ein kleines Volk in Amazonien, mit kaum 400 Menschen, ist standhaft geblieben. Es nennt sich "Hi'aiti'ihi" (die Aufrechten), Pirahã heißen sie bei den Weißen und Wissenschaftlern. Sie führen ein "Leben ohne Zahl und Zeit", schreibt der Spiegel. Außerdem kennen sie keinen Gott und keine Götter, haben keine Rituale und keinen Besitz. "Hüter der Glücksformel" werden sie auch genannt, weil der erste Erforscher ihrer Lebensweise und ihrer komplizierten Sprache, der Linguist Dan Everett, sie als "Das glücklichste Volk" beschrieb.

Es hütet jedoch kein Geheimnis, sondern eine einfach strukturierte Sprache - in der sich die Pirahã viel erzählen. Sie siedeln an einem Seitenarm des Amazonas, jagen und angeln und sind mit ihrem Leben überaus zufrieden, sodass sie sich kaum von irgendetwas affizieren lassen. "Die Pirahã reden sehr gern. Kaum etwas anderes fällt Besuchern, die ich zu den Pirahã bringe, so stark auf wie ihre Neigung, ständig zu reden und gemeinsam zu lachen", schreibt der einstige US-Missionar Everett, der während seiner langjährigen Arbeit umgekehrt von ihnen zum Unglauben bekehrt wurde und nun quasi ihr Stammesethnologe ist.

Aber ihre "kulturellen Werte" schränken die "Themen" ihrer endlosen Unterhaltungen stark ein, meint er. Mit den "Werten" ist ihr unbedingter Wille zum Sein in "unbegrenzter Gegenwart" gemeint. Die Pirahã kennen weder Vergangenheit noch Zukunft - und akzeptieren sie auch nicht. Everett spricht von ihrem "Prinzip des unmittelbaren Erlebens", dem er viel abgewinnen konnte, nachdem er ihre Sprache gelernt hatte: "Die Pirahã sind ganz und gar dem pragmatischen Konzept der praktischen Relevanz verhaftet. Sie glauben nicht an einen Himmel über uns, an eine Hölle unter uns oder irgendeine abstrakte Sache, für die zu sterben sich lohnt. Damit verschaffen sie uns die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie ein Leben ohne absolute Werte, ohne Rechtschaffenheit, Heiligkeit und Sünde aussehen könnte. Das ist eine reizvolle Vision."

Nichts von Jesus hören

Und weil es bei den Pirahã im Prinzip keine höhere Autorität als den Bericht eines Augenzeugen gibt, stoppten einige ältere Männer, die sich mit dem Autor angefreundet hatten, eines Tages auch dessen Missionstätigkeit: "Die Pirahã wollen nicht wie Amerikaner leben," sagten sie ihm. "Wir trinken gern. Wir lieben nicht nur eine Frau. Wir wollen Jesus nicht - und auch nichts von ihm hören."

Nach einer Glaubenskrise reifte in dem sich dann bei Noam Chomsky zum Linguisten umschulen lassenden Autor die Erkenntnis: "Ist es möglich, ein Leben ohne die Krücken von Religion und Wahrheit zu führen? Die Pirahã machen es uns vor. Sie stellen das Unmittelbare in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, und damit beseitigen sie mit einem Schlag gewaltige Ursachen von Besorgnis, Angst und Verzweiflung, die so viele Menschen in den westlichen Gesellschaften heimsuchen."

Die stets gegenwärtig bleibenden Pirahã sorgen sich nicht. Dabei gäbe es Gründe genug: Sie sterben früh, u. a. an Tropenparasiten und den Krankheiten der Weißen, haben Jagdunfälle und Streitereien mit Nachbarstämmen. Weil die mit Schiffen gelegentlich bei ihnen anlegenden Händler sie bei Tauschgeschäften oft übervorteilen, wollten sie zählen und rechnen lernen, aber ihr transzendentaler Präsens verhinderte auch das Denken mit der Abstraktion Zahl. Die Begriffe für "links" und "rechts" kennen sie ebenfalls nicht. Und keine Häuptlinge, Rituale, Initiationen, weder Schwüre noch Schmuck, und keine Diskriminierung von Frauen oder Kindern, wenn man den Berichten glauben darf.

Ihre Konzentration auf das Wesentliche könnte man mit Friedrich Engels als urkommunistisch bezeichnen, Everett hält die Pirahã-Kultur jedoch mitnichten für "primitiv: Vielleicht machen gerade Ängste und Sorgen eine Kultur primitiv, und wenn sie fehlen, ist eine Kultur höher entwickelt. Wenn das stimmt, haben die Pirahã eine sehr hoch entwickelte Kultur." Außerdem kennen sie nicht weniger Begriffe als wir.

Entleerung der Gegenwart

Für den Philosophen der Französischen Revolution, Kant, war die "transzendentale Gegenwart" allein Gott vorbehalten, dafür war für ihn die "Zeit" transzendental - d. h. uns allen innerlich mitgegeben. Inzwischen meinen wir schon, dass es sich dabei um eine "substanzielle Größe" handelt, mit der wir immer ökonomischer umgehen können - um z. B. "Quality Time" daraus zu machen. Gleichzeitig bestritt die westliche Moderne ihren globalen Siegeszug mit den Zahlen - über Handel, Technik und Ingenieurwissen bis hin zur Kybernetik.

Aber bereits jetzt zeichnet sich ab, dass uns dabei die Gegenwart immer mehr abhandenkommt: Wie viele gegenwärtige Gesprächsrunden werden zerstört durch permanente Handyanrufe aus der Zukunft. Wie viele Sehenswürdigkeiten werden, statt sie sich genau anzukucken, nur schnell fotografiert oder gefilmt - für später. Wie viele Anstrengungen unternehmen wir täglich, um uns die Zukunft zu sichern - und sei es nur den Rest der Woche. Zeit ist Geld, heißt es, und Geld ist Zahl. Aber die Entleerung der Gegenwart geht noch weiter.

In seinem Buch "Geistige und körperliche Arbeit" schreibt der Sozialphilosoph Alfred Sohn-Rethel: "In der Kybernetik verfällt die Funktion der menschlichen Sinnesorgane und operativen Hirntätigkeit selbst der Vergesellschaftung" - während wir zugleich - beginnend mit der Industriearbeiterschaft - atomisiert werden. In der "Wissensgesellschaft" angekommen, haben wir es bald nur noch mit Algorithmen zu tun. Dafür können wir uns dann z. B. abends mit unserem Waschmaschinensystem unterhalten.

Horkheimer und Adorno konnten 1944, als sich die Kybernetik gerade aus der Lenkwaffenforschung "befreite", noch gnädig sein - in ihrer "Dialektik der Aufklärung" schrieben sie: Die ganze "Wissenschaft rechnet, rechnen ist nicht Denken. Denken entzündet sich am Widerstand. Systembauen ist die Ausräumung des Widerstands im Denken. Bei Mathematikern, Programmierern und Technikern geht das in Ordnung, bei allen anderen ist es eine höhere Form des Schwachsinns."

Das Ranking z. B. - heute wird sogar das Schwachsinnigste gerankt. Der zur Frankfurter Schule zählende Alfred Sohn-Rethel war in den siebziger Jahren radikaler: "Wenn es dem Marxismus nicht gelingt, der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen, dann ist die Abdankung des Marxismus als Denkstandpunkt eine bloße Frage der Zeit." Jahrzehntelang arbeitete er an seinem o. e. Buch darüber, in dem er nachzuweisen versuchte, dass und wie die naturwissenschaftlichen Begriffe "Realabstraktionen" sind, die auf dem entwickelten Warentausch basieren.

Die Pirahã am Maici-Fluss sind trotz gelegentlichen Handels gegen "Realabstraktionen" anscheinend resistent. Inzwischen leben sie in einem Reservat, und auf jeden Pirahã kommen vier Diplomanden, zwei Doktoranden und ein Professor. Auch der Staat Brasilien schickt immer mal wieder Kommissionen vorbei. Man hat jeden von ihnen schon x-mal fotografiert. Zweidimensionalen Bildern können die Pirahã übrigens auch nichts abgewinnen. Schon dasselbe wiederzuerkennen fällt ihnen, die alle paar Jahre ihren eigenen Namen ändern, schwer.

Sie sind die ersten und vielleicht letzten großen Verweigerer aller "Realabstraktionen". Bald werden die Touristen kommen, spätestens dann gilt auch für die Pirahã das kapitalistische Wertgesetz. "Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert", schreiben Adorno/Horkheimer. "Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung. Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten."

Am Arsch vorbei

Die Pirahã, die überall nur Qualitäten wahrnehmen und statt Göttern höchstens dort gelegentlich Erscheinungen sehen, wo wir noch so genau hingucken können, sind wahrscheinlich als Ewiggegenwärtige dazu verdammt, in Zukunft nur noch eine romantische Idee aus der Vergangenheit zu sein. Eine Ironie des Realen. In seinem Amazonas-Bericht "Traurige Tropen" hat der Ethnologe Claude Lévy-Strauss das bereits 1955 befürchtet. Als stets Gegenwärtige wird es den Pirahã aber wohl in gewisser Weise am Arsch vorbeigehen. Ihre Population hat sich in letzter Zeit sogar vergrößert.

Es kann mithin auch anders kommen, dass sie z. B. an einem Institut für Antiamerikanistik zum Nukleus einer widerständigen Linguistikgemeinde werden. Bereits jetzt haben sie die "Universalgrammatik" von Noam Chomsky, die global und genetisch argumentiert, und für uns alle gelten soll, allein durch ihre extravagante Sprache, die laut Everett "in zahlreichen Punkten extrem ungewöhnlich ist und strukturell massiv von anderen, auch ,exotischen', Sprachen abweicht", quasi listig widerlegt, indem sie die kurzen Sätze ihrer Erlebniserzählungen wie Perlen auf eine Kette reihen.

Aber was immer mit den Pirahã passieren wird, sie helfen uns - das zu erfassen, was Rousseau den vielfältigen Ursprung unserer Gesellschaft nennt, "der nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich auch nie existieren wird und von dem wir dennoch richtige Vorstellungen haben müssen, um unseren gegenwärtigen Zustand beurteilen zu können."

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