„Fast jedes Abhören wird erlaubt“

Interview CHRISTIAN RATH

taz: Herr Albrecht, die Zahl der Telefonüberwachungen hat sich in Deutschland in den letzten Jahren knapp verfünffacht. Wie kommt das?

Hans-Jörg Albrecht: Es ist richtig, dass immer mehr Telefonanschlüsse überwacht werden. Allerdings hat sich in Deutschland auch die Zahl der Telefone vervielfacht. Neben den Festnetzanschlüssen gibt es inzwischen auch 60 Millionen Mobiltelefone. Rechnet man die Zahl der Anordnungen auf Telefonüberwachung auf die Zahl der Telefone um, ist die Abhörqoute in den letzten vier Jahren sogar deutlich gesunken. 1997 waren von 10.000 Telefonen pro Jahr durchschnittlich 5 von einer Abhöraktion betroffen. Im Jahr 2001 sind es nur noch 3.

Der Anstieg der Telefonüberwachung ist also gar nicht so dramatisch, wie es aussieht?

Auch Kriminelle nutzen die neue Flexibilität des Telefonierens. Sie versuchen, Abhörmaßnahmen dadurch zu vermeiden, dass sie immer wieder die Handys oder den Anbieter wechseln. Deshalb gibt es im Verlauf polizeilicher Ermittlungen gegen eine Person oft Telefonüberwachungs-Anordnungen zu mehreren Anschlüssen.

Werden also immer etwa gleich viel Personen an immer mehr Telefonen abgehört?

Nein, die Zahl der Personen, deren Telefone abgehört werden, nahm im Lauf der letzten Jahre durchaus zu, aber eben lange nicht so stark wie die Zahl der betroffenen Telefone.

Bei welcher Art von Ermittlungen werden heute zunehmend Telefone überwacht?

Etwa zwei Drittel aller Abhörmaßnahmen beziehen sich auf Drogenkriminalität. Da beim Handel mit illegalen Gütern viel Koordination und Kommunikation erforderlich sind, ist hier auch die Anordnung von Telefonüberwachungen erfolgversprechend, vor allem seit Drogenhändler immer besser in die oft entlegenen Anbaugebiete telefonieren können.

Politische Delikte haben doch auch viel mit Kommunikation zu tun …

Nach unseren Untersuchungen spielt politische Kriminalität bei der polizeilichen Telefonüberwachung so gut wie keine Rolle. Die Abhörtätigkeit von Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst haben wir allerdings nicht untersucht.

Wie sieht es bei den klassischen schweren Straftaten aus, also bei Mord, Totschlag, Vergewaltigung?

Hier machen Abhörmaßnahmen meist wenig Sinn. Bis jemand am Telefon einen Mord gesteht, weil er sich aussprechen muss, da können Jahre vergehen. So lange kann die Polizei nicht warten. Schließlich ist die Auswertung abgehörter Telefongespräche sehr personalintensiv und damit auch teuer.

Wie häufig sind Dolmetscher erforderlich?

Im Drogenbereich ist das eher die Regel, denn hier operieren auch viele Gruppen aus dem arabischen, asiatischen und lateinamerikanischen Raum. Das erhöht natürlich die Kosten.

Das Abhören selbst ist durch die Digitalisierung der Netze aber einfacher geworden …

Das stimmt. Heute muss kein Tonband mehr mitlaufen – der Telefonanbieter überspielt der Polizei die abgespeicherten Datenpakete. Manches ist aber auch komplizierter geworden. Früher hatte die Polizei nur mit der Bundespost, einem Staatsunternehmen, zu tun. Heute gibt es dutzende private Anbieter, die ganz andere Interessen haben, als Zuarbeit für die Polizei zu leisten.

Deutschland ist Abhörweltmeister, sagen die Kritiker seit Jahren. Stimmt das?

Nein. In Kontinentaleuropa liegt Deutschland etwa im Mittelfeld. In der Schweiz, in Italien, sogar in Holland wird, umgerechnet auf die Bevölkerung, deutlich mehr abgehört, bis zum Doppelten des Umfangs in Deutschland.

Wie konnte dann das Bild vom Abhör-Weltmeister entstehen?

Da wurden wohl vor allem die Zahlen aus den USA zum Vergleich genommen. Umgerechnet auf die Bevölkerung wird bei uns etwa fünfzehnmal so viel abgehört wie in den Vereinigten Staaten.

Warum ist man dort so restriktiv?

Das ist einerseits eine Frage der politischen Traditionen. In den USA gilt die Privatsphäre mehr als in Europa, wo man eher dem Bild vom starken Staat anhängt, der zur Strafverfolgung auch mal in geschützte Räume eindringen muss. Andererseits gibt es in den USA jährliche Berichte über die Abhöraktivitäten des Staates. Das führt sicher auch dazu, dass weniger abgehört wird.

Sollte es auch in Deutschland solche Berichte geben?

Ja, das würde ich begrüßen. Bisher sind solche regelmäßigen Bilanzen nur beim großen Lauschangriff, dem Einsatz von Wanzen in Wohnungen, vorgesehen.

Die Polizei darf nur abhören, wenn ein Richter es genehmigt hat. Wie effizient ist der Richtervorbehalt?

Fast jede Abhörmaßnahme, die die Staatsanwaltschaft beantragt, wird auch genehmigt. Die Ablehnungsquote liegt im Promillebereich. Dabei übernimmt eine Stelle die Begründung von der anderen: Die Staatsanwaltschaft wiederholt die Ausführungen der Polizei und der Richter die Ausführungen der Staatsanwaltschaft.

Das klingt nicht nach intensiver Kontrolle …

Der Richter soll feststellen, dass die Telefonüberwachung nur als letztes Mittel zum Einsatz kommt. Bei komplexen Verfahren wie im Bereich der organisierten Kriminalität müsste er eigentlich mehrere dicke Aktenordner studieren. Eine solide richterliche Entscheidung würde da mindestens eine Woche benötigen. So viel Zeit hat kein Richter.

Also wird einfach unterschrieben?

Nein, ein Richter prüft den Sachverhalt schon einige Stunden, aber das genügt eben bei weitem nicht.

Wie wird der Richtervorbehalt in den USA gehandhabt?

Auch dort lehnen die Richter fast nie einen Antrag ab. Die geringe Bedeutung des Richtervorbehalts ist ein weltweites Phänomen.

Wie kann man das ändern?

In Dänemark gibt es ein interessantes Modell. Dort wird vor einer Abhörmaßnahme eine kleine Gerichtsverhandlung durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft muss begründen, warum sie abhören will, und ein Anwalt vertritt demgegenüber die Interessen des Beschuldigten.

der aber nichts von diesem Vorgang erfährt?

Genau. Die Telefonüberwachung muss natürlich geheim bleiben, sonst kann man sie auch bleiben lassen.

Wie erfolgreich sind die Abhörmaßnahmen denn aus Sicht der Polizei? Lohnt sich für sie der Aufwand?

Ja, in einem ganz erheblichen Teil der Verfahren führt die Telefonüberwachung zu Erkenntnissen, mit denen sich kriminelle Strukturen aufklären lassen. In der Regel werden dabei aber nicht vergangene Straftaten aufgeklärt, sondern laufende illegale Geschäfte mitverfolgt und im Idealfall die „Geschäftspartner“ bei Übergabe der Ware verhaftet.

Wie häufig werden Abhörergebnisse vor Gericht verwendet?

Relativ selten. Wenn die Täter in flagranti ertappt werden, kommt es darauf nicht mehr an. Auch wenn der Täter gesteht oder wenn die Abhöraktion gar nichts erbracht hat. Da Abschrift und schriftliche Übersetzung der mitgehörten Telefonate teuer sind, verzichtet die Polizei darauf, wenn möglich. Oft bietet die Telefonüberwachung aber wichtige Hinweise, die zu weiteren Ermittlungserfolgen führen.

Es besteht also wenig Gefahr, dass vertrauliche Gespräche mit Unbeteiligten später in aller Öffentlichkeit vor Gericht verlesen werden?

Das ist ziemlich selten.

Aber zumindest die Polizisten können sich ihre private Seifenoper sichern, indem sie das Privatleben anderer Menschen mitverfolgen …

Für so etwas haben die Strafverfolger keine Zeit. Da sorgen schon Vorgesetzte und Kollegen dafür, dass sich keiner zum Spaß den Familientratsch anderer anhört. Wenn eine Abhöraktion nichts Relevantes erbringt, wird sie oft sehr schnell wieder eingestellt.