Kellners Aufzeichnungen über den Nazi-Mord : "Vernebelt sind alle Hirne!"
Die Tagebücher Friedrich Kellners zeigen, dass vieles über die Verbrechen der Nazis gewusst werden konnte. Bis 1945 füllte er zehn Hefte mit Notizen zum Alltag in der Diktatur.
Die Frage, was Deutsche wissen konnten über die Verbrechen des Nazi-Regimes, beschäftigte lange Zeit die Forschung. Mittlerweile ist klar: Jeder aufmerksame Zeitgenosse konnte fast alles wissen. Einen weiteren Beleg dafür bilden die eben veröffentlichten Tagebücher des Gerichtsbeamten Friedrich Kellner (1885-1970).
Der Sozialdemokrat Kellner war von Anfang ein Gegner des Regimes. Am 10. Juni 1941 schrieb er in sein Tagebuch: "In letzter Zeit mehren sich die Anzeigen über Todesfälle in der Heil- und Pflegeanstalt in Hadamar. Es hat den Anschein, dass unheilbare Pflegebefohlene in diese Anstalt gebracht werden.
Auch soll eine Anlage zur Einäscherung eingebaut worden sein." Sieben Wochen später hatte er Gewissheit und notierte: "Die Heil- und Pflegeanstalten sind zu Mordzentralen geworden." Den Mördern war ein Versehen passiert. Ein nach Hause entlassenes Kind wurde nicht von der Liste der Todeskandidaten gestrichen. Die Eltern erhielten eine Todesanzeige, obwohl das Kind bei ihnen lebte.
Hadamar liegt nördlich von Wiesbaden. In dieser Anstalt wurden 1940/41 über 10.000 behinderte Menschen in einer Gaskammer ermordet und in einem Krematorium verbrannt. Das "Euthanasie-Programm" nahm solche Dimensionen an, dass es nicht geheim zu halten war, ihm fielen rund 70.000 Menschen zum Opfer.
Von den Massenerschießungen von Polen und Juden durch die Wehrmacht und die Einsatzgruppen erfuhr Kellner im Herbst 1941 von einem Soldaten im Urlaub. Am 14. Dezember 1941 schrieb er in sein Tagebuch: "Diese Schandtaten werden niemals wieder ausgelöscht werden können."
Er sah, was sich anbahnte
Friedrich Kellner stammte aus bescheidenen Verhältnissen und wuchs in Mainz auf. Nach dem Oberrealschulabschluss wurde er Büroangestellter beim Mainzer Amtsgericht, schließlich Justizsekretär und Justizinspektor. 1933 ließ er sich von Mainz in die hessische Provinzstadt Laubach versetzen.
Seinem Sohn Fritz wollte Kellner ein Leben unter der Diktatur und den erwarteten Kriegseinsatz ersparen. Fritz Kellner jun. emigrierte 1935 in die USA.
Kellner sah schon bald nach der Übergabe der Macht an Hitler, was sich anbahnte. Er unternahm zwei Reisen nach Frankreich, um den amerikanischen Außenminister per Brief darüber zu informieren, was in Deutschland vor sich ging. Erfolglos. Nach seiner Rückkehr dokumentierte er in seinem Tagebuch akribisch den Alltag unter der Diktatur.
Bis zum Kriegsende füllte er zehn Hefte mit 900 Seiten mit Zeitungsausschnitten und Kommentaren, Beobachtungen und Notizen zum Alltagsleben. Besonders aufmerksam verfolgte er Goebbels' Propagandamaschinerie. Schon am 26. 9. 1938 hielt er fest: "Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne!"
Verhaftung drohte
Zwei Monate später forderte er den Gerichtspräsidenten auf, die vom bäuerischen Mob bedrohten Juden in Laubach im Gerichtsgebäude aufzunehmen. Der Gerichtspräsident weigerte sich. Dafür sollte Kellners Frau verhaftet werden, weil sie bedrohten Juden Schutz anbot.
Kellner führte sein Tagebuch bis zum Kriegsende weiter. Drei Wochen nach Kriegsbeginn, vom Bündnis Hitlers mit Stalin nicht geblendet, schrieb er: "Krieg mit Russland wird kommen." Und den Putsch vom 20. Juli 1944 kommentierte er nüchtern: "Eine Revolution, nur von Offizieren (ohne Volk) geführt, ist eine Totgeburt."
Nach dem Krieg beteiligte sich Kellner maßgeblich am Wiederaufbau der SPD im Vogelsbergkreis, wurde Parteivorsitzender in Laubach, kommunaler Beigeordneter und schließlich Stadtrat. Von 1948 bis zu seiner Pensionierung 1950 war er Bezirksrevisor beim Landgericht in Gießen. Sein Tagebuch blieb liegen. Die Zustände in der Adenauer-Republik deprimierten ihn.
Der Sohn Fritz/Fred kehrte nach dem Krieg als US-Soldat nach Deutschland zurück, geriet jedoch in Schwarzmarktaktivitäten und spielte dem Vater wie zuvor schon den amerikanischen Einwanderungsbehörden und seinen beiden Ehefrauen eine Maskerade vor. 1953 beging er in Frankreich Selbstmord.
Die vergessenen Tagebücher
1960 bekam Kellner Besuch von seinem Enkel Robert Martin Scott Kellner, dem er vertraute und 1968 seine Tagebücher vermachte. Kellner starb am 4. November 1970 in Mainz, ohne dass jemand außer dem Enkel die Tagebücher kannte. Der Rest der Geschichte hört sich abenteuerlich an, ist jedoch verbürgt.
Der Enkel übersetzte Teile der Tagebücher und präsentierte sie im Frühjahr 2005 in der Library von George Bush sen. in Station/Texas. Ein kanadisches Fernsehteam drehte 2006 aufgrund dieser Ausstellung und einem Interview mit dem Enkel einen Dokumentarfilm über Friedrich Kellner.
Weil der Spiegel im Mai 2005 über die Ausstellung in Texas berichtete, erfuhr die Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universität Gießen von den Tagebüchern und plante deren vollständige und kompetent kommentierte Publikation, die jetzt im Wallstein-Verlag erschienen ist.
Der kleine Mann im Vogelsberg
Kellner selbst erfasste die Bedeutung seiner Tagebücher am besten, als er schon am 10. November 1940 notierte: "Die Geschichte wird den Beweis erbringen, ob die derzeitigen Machthaber oder ich, der kleine Mann im Vogelsberg, die weltpolitischen Möglichkeiten besser durchschaut haben."
Durchschaut hat Kellner nicht nur Goebbels' Propaganda ("Hirnverschleimung"), sondern vor allem viele seiner Mitbürger: "Ein Teil des deutschen Volkes (hat) überhaupt jegliches Empfinden für Recht und Gerechtigkeit verloren".
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