Die Echtheit der Empfindungen

Jede Tragödie braucht einen Körper, dem sich die Wirren des Weltgeschehens einschreiben lassen: In Jeffrey Eugenides‘ großer Familiensaga „Middlesex“ sind die historischen Zeitläufte und das Drama der Adoleszenz untrennbar miteinander vermischt

Eugenides begibt sich mit „Middlesex“ auf Konfliktkurs an allen Sexfronten

von HARALD FRICKE

Der Titel führt auf Abwege. „Middlesex“, das verspricht nach all dem, was man über Jeffrey Eugenides und seine vor kurzem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Familiensaga bereits gehört hat, den Thrill und die Faszination aktueller Gender-Extravaganza. Wo ist die Mitte zwischen männlich und weiblich? Was liegt zwischen den Geschlechtern? Und vor allem: Wie fühlt sich das an, im Leben und in der Liebe? Schließlich macht Eugenides von Beginn an kein Geheimnis aus dem schicksalsbringenden Würfelwurf der Natur und verrät schon im ersten Satz, dass der Erzähler von „Middlesex“ gleich zweimal geboren wurde: als kleines Mädchen Calliope, „an einem bemerkenswert smogfreien Januartag 1960“, und als halbwüchsiger Junge namens Cal im August 14 Jahre später. Zwischen diesen biografischen Schnittstellen, etwa in der Mitte des Buches nach gut 350 Seiten, erfährt man aber, dass mit dem vielversprechenden Wort lediglich eine Straße in Detroits Vorort Grosse Point gemeint ist. Der Middlesex Boulevard liegt in einer vornehmen Gegend, mit teuren Villen, in denen in den Sechzigerjahren Familien wohnten, die den gesellschaftlichen Aufstieg in den USA geschafft hatten. Auch der Stephanides-Clan gehört dazu.

Kurz nach dem Umzug in das bessere Viertel wird Calliope Stephanides allerdings zum ersten Mal mit einer Schulfreundin das Küssen üben. Ihre Gefühle sind zwiespältig, „mein Herz, diese Amphibie, bewegte sich in jenem Augenblick zwischen zwei Elementen: hier Erregung, da Furcht“. Eingeschlossen wie in einem Bergkristall liegt in dem Satz das Programm, das sich Eugenides in bald zehnjähriger, zäher Schreibarbeit für seinen 800 Seiten langen und drei Generationen umspannenden Roman vorgenommen hat. Es geht um Transformationen, die mal mehr und mal weniger glücken. Griechische Bauern werden zu Emigranten, die fremd in der Großstadt bleiben; die Kinder der Einwanderer versuchen sich dem American Way of Life anzupassen; und die Enkelgeneration entdeckt, dass sie gespalten ist. Nicht bloß kulturell – das ist postmodern besehen jeder heutzutage –, sondern vom Sex her sozusagen.

Tatsächlich sind bei Eugenides die historischen Zeitläufte und das Drama der Adoleszenz untrennbar vermischt. Jede Tragödie braucht einen Körper, dem sich die Wirren des Weltgeschehens einschreiben lassen, und „Middlesex“ ist voll von solcherart in Widersprüche eingesperrten Persönlichkeiten – dies ist Amerika, das Land der legal aliens! Da sind zunächst die Großeltern Desdemona und Lefty, deren geheimgehaltene Geschwisterheirat über die Jahre der Depression, den Zweiten Weltkrieg und die Riots 1967 hinweg mit der Ghettoisierung der afroamerikanischen Bevölkerung von Detroit kontrastiert. Während die schwarze Community auf der Suche nach Identität und Einheit an der eigenen Zerrissenheit aus der Zeit der Sklaverei scheitert, gebiert der familiale Inzest im Hause der Stephanides, bei denen sich auch die Nachkommen wieder überkreuz von Cousin zu Cousine vereinen, jenes zwitterige Monster, als das sich Calliope schließlich sieht.

Die Metamorphose, Kettenreaktion und Schattenbild zivilisatorischer Verfeinerung in einem, läuft in „Middlesex“ auf diese Ambivalenz hinaus: Aufgewachsen als Mädchen entdeckt Calliope ihr zweites Geschlecht, dessen männlicher Genpool in ihr überwiegt. Gegen alle soziale Prägung, nach den Torturen einer aufgezwungenen Weiblichkeit mit Wachsenthaarung und ausgestopften Büstenhaltern, lässt Eugenides seine Erzählfigur die Freiheit selbstbestimmter Sexualität wählen. Ein nicht eben unumstrittenes Ansinnen, hatte Michel Foucault mit seinem Essay über Hermaphrodismus gerade in Frage gestellt, ob es das „wahre Geschlecht“ überhaupt geben kann.

Eugenides geht anders vor und vertraut im Roman auch nicht dem Gender-Dekonstruktivismus, der physische Merkmale als weit gefächert auslegbare Zeichen liest. Der Code mag uneindeutig sein; was aber zählt, ist die Echtheit der Empfindungen. Als Calliope sich in eine Mitschülerin – „das obskure Objekt“ – verliebt, ahnt sie, dass ihr Trieb einem verborgenen Körperbewusstsein folgt. Es ist das andere Geschlecht, durch das sich das eigene zu erkennen gibt: „Ich fragte mich, was wohl geschehen würde, wenn jemand entdeckte, was wir taten. Ich dachte, dass alles sehr kompliziert war und nur noch komplizierter werden würde.“

Nein, das klingt nicht nur im Kopf eines Teenagers ziemlich quer. Mit seinem Entwurf bewegt sich Eugenides auf Konfliktkurs an praktisch allen Sexfronten. Weder Heterosexualität noch Homosexualität taugen als Lösung, zu verschlungen sind die Wege im Falschen. Aus Verzweiflung schläft Calliope mit dem Bruder der Angebeteten, doch in ihrer Fantasie findet der Sex mit dem Mädchen statt.

Dass ausgerechnet dieser schmerzhafte Akt zur Ekstase führt, wird von Eugenides mit einer Gleichmut und Gelassenheit erzählt, die ihn neben Jonathan Franzen zum derzeit am höchsten gehandelten US-Autor macht. Keine Ironie, nur tiefe Wortwörtlichkeit. Aus den schier unendlichen Verzweigungen des Geschlechterdiskurses wird die eine Klarheit gefiltert: Was meint Ekstase, wenn nicht „ein Aus-sich-Heraustreten, Von-Sinnen-Sein“, heißt es dann im Rekurs auf die griechischen Wurzeln. Und plötzlich ist auch Calliope im Coming-out bei sich: Was könnte aus ihr heraustreten, wenn nicht die Gewissheit, ein Mann zu sein? Dieses eine Mal kommen Begriff und Empfindung zusammen, werden sogar Dinge und Sprache für den Schriftsteller wieder eins. Das nennt man wohl einen Glücksmoment der Literatur.

Angesichts der Bedrängnisse ihrer Pubertät entscheidet sich die eugenidische Calliope nun nicht mehr für eine mögliche Umoperation, sondern für ein Leben als Mann mit kleinen physischen Mängeln. Vielleicht, weil sie weiß, dass ihr Ego nur ein Geschöpf der Lüge war, gebaut auf dem zufälligen Fehlgriff eines Arztes, der den winzigen Zipfel übersah, aus dem sich später alles Streben und alles Begehren speisen würde. Einigermaßen mit seiner Natur versöhnt aber wird der vierzehnjährige Cal erst, als er sich aus der Hülle seiner Mädchenexistenz herausschält – wortwörtlich, ein Friseur wird es richten. Am Ende der Romanspirale ist Calliope in ihrem vollständig-unvollständigen Körper als dem eigentlichen Zuhause angelangt: auf einer Odysee, die mit dem Inzest der Großeltern während der Flucht vor dem türkisch-griechischen Krieg 1922 begann und mit dem Einmarsch der Türken auf Zypern schließt. Jener Insel also, auf der, so will es die griechische Mythologie, der Kult um die hermaphroditischen Zwitterwesen einst entstand. Da kennt Eugenides sein kulturelles Erbe sehr genau. Immerhin war Calliope die Muse des epischen Gesanges – und auch Mutter von Orpheus.

Jeffrey Eugenides: „Middlesex“. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 816 Seiten, 24,90 €