Das Genom, eine Ressource

Weltweite Regeln für die Erforschung und Auswertung des menschlichen Genoms werden von der Unesco vorbereitet. Auch nicht einwilligungsfähige Menschen sollen als Forschungsobjekte dienen

„Und dann wird es bald genetische Ausweise von jedem Menschen geben“

von URSULA FUCHS

50 Jahre nach der Entdeckung der DNS-Struktur geht es Forschern in aller Welt jetzt um das Verständnis der Gene, ihre Funktionen und individuellen Unterschiede. „Dazu müssen verstärkt so schnell wie möglich allgemeine öffentliche Vorräte an DNS-Mustern und Zelllinien verfügbar gemacht werden“, prognostizierte Science bereits 1998. Beschaffung, Nutzung und Lagerung erfordern neue Rechtsgrundlagen.

Nach der „Deklaration zum menschlichen Genom und den Menschenrechten“, verabschiedet 1998 von der Unesco (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization), stellt nun das Internationale Bioethik-Komitee der Unesco auf seiner Sitzung nächste Woche in Paris den Entwurf für eine Deklaration zu den menschlichen Gendaten vor. Fast gleichzeitig zu der Diskussion bei der Unesco präsentiert auch eine Arbeitsgruppe des Lenkungsausschusses für Bioethik im Europarat (CDBI) ein inhaltlich ähnliches Vorentwurfspapier. Es soll einmal ein Zusatzprotokoll zur Biomedizin-Konvention des Europarates werden. Europäische Konvention und Unesco-Deklaration sind in Entstehung und Inhalten verschwistert.

Die aktuellen Themen betreffen Daten und Informationen aus Gentests und deren Erhebung. Anwendungsgebiete sind unter anderem diagnostische oder prädiktive Tests – auch an „Carriern“, das heißt nicht erkrankten Genüberträgern – in der humangenetischen Praxis, vor allem aber auch Genfunktionsprüfungen, Forschung an individuellen Varianten der Erbinformation und die „Pharmakogenomik“. Nicht endgültig ausgeschlossen werden sollen Gentests auf dem freien Markt.

Datenschutz kommt in den vorliegenden Papieren hingegen allenfalls am Rande vor. Das befremdet umso mehr, als „grenzüberschreitende Forschung“ als ein wichtiges Thema im Entwurf eines „Instruments über die Verwendung aufbewahrten humanbiologischen Materials in der biomedizinischen Forschung“ genannt wird. Vielmehr heißt es: „Forschung darf keine Risiken für die Privatsphäre von Personen oder Personengruppen bergen, die im Missverhältnis zum möglichen Nutzen stehen.“ Immerhin geht es um „personenbezogene“ Daten, die „identifizierbar“, „verschlüsselt“, „reversibel oder irreversibel anonymisiert“ sein können.

Hauptthemen des Unesco-Papiers sind das „genetische Make-up“, die Gendiagnostik an lebenden und verstorbenen Menschen, zu Gesundheitszwecken, für die Forschung, in der Arbeitswelt und bei Versicherungen sowie zur „Entscheidungsfindung“ bei der Nachwuchsplanung.

Mit ähnlichen Themen beschäftigt sich auch der Vorentwurf zum Zusatzprotokoll Humangenetik der Europäischen Biomedizinkonvention: So sollen genetische Reihenuntersuchungen zu Gesundheitszwecken Gruppen oder gar der Gesamtheit einer Bevölkerung angeboten werden, wenn es darum geht, Menschen zu ermitteln, die zwar keine Symptome aufweisen, aber ein erhöhtes Risiko haben, entweder selbst an einer Erbkrankheit zu leiden oder eine derartige Störung oder Erkrankung an nachfolgende Generationen weiterzugeben.

Bei Menschen, die nicht einwilligungsfähig sind, soll es künftig genügen, wenn gesetzliche Vertreter oder entsprechende Institutionen einer Gendiagnostik zustimmen, und zwar „in Ausnahmefällen“ auch schon dann, wenn ein solcher Test „Familienangehörigen gesundheitlich nützen oder ihnen Fortpflanzungsentscheidungen ermöglichen kann“.

Im Jahr 1994 hatte der so genannte Forschungsartikel der Biomedizin-Konvention des Europarates, der ähnliche Freiräume für die Wissenschaft schuf, in Deutschland noch hunderttausende vehementer Proteste in allen Schichten der Bevölkerung hervorgerufen und die Unterzeichnung der Konvention bis heute verhindert. Auch im Zusatzprotokoll zur biomedizinischen Forschung vom Juli 2001 dürfen nach Artikel 18 nicht einwilligungsfähige Menschen – bei „minimaler Belastung und minimalem Risiko“ – als Forschungsobjekte genutzt werden.

Das gleiche Papier nimmt für Forschungszwecke auch quantitativ interessante Gruppen von zwar einwillligungsfähigen, jedoch in sehr speziellen Lebenssituationen befindlichen Menschen ins Visier: etwa „Personen, denen die Freiheit entzogen ist“. Die Verfasser halten auch „Forschung, die Interventionen bei Schwangeren oder Stillenden oder bei Embryonen oder Föten einschließt“, unter bestimmten Bedingungen für statthaft: Wenn sie den Probandinnen Nutzen bringen kann oder „zum Ziel hat, durch eine wesentliche Erweiterung des wissenschaftlichen Verständnisses zu Ergebnissen beizutragen, die anderen Embryos, Föten, Kindern oder Frauen nützen können“.

Bereits vor über zehn Jahren zitiert Elisabeth Beck-Gernsheim den Gründer eines US-Biotech-Unternehmens, Orrie Friedman: „Wenn Sie in der Gesamtbevölkerung Reihenuntersuchungen durchführen, wenn Sie Risikountersuchungen machen können, dann wird das ein massenhafter, ein Multi-Millionen-Dollar-Markt … Und dann wird es bald genetische Ausweise von jedem Menschen auf Erden geben: Das wird anfangen mit einzelnen Gruppen, mit den Gefängnisinsassen, mit den Soldaten – bei uns fragen die jetzt schon an, wie es ist mit DNS-Fingerabdrücken von Neugeborenen. 3,5 Millionen Neugeborene in den USA – das wäre ein Markt von einer halben Milliarde.“ Für genehmigte Reihenuntersuchungen zu Gesundheitszwecken sieht der Vorentwurf des Zusatzprotokolls zur Biomedizinkonvention unter anderem vor, dass alle dazu gleichen Zugang haben sollen, dass Vorbeugungsmaßnahmen oder Therapien für die Testkrankheit vorhanden sein sollen und dass niemand durch die Teilnahme stigmatisiert werden darf. Die Teilnahme müsse freiwillig sein und soll nicht vergütet werden – „mit Ausnahme minimaler Vorteile, etwa ein Drink oder – bei einem Kind – ein Spielzeug“, heißt es in den Erläuterungen.

In Monaco indessen fand Ende Februar 2003 ein „öffentlicher Anhörungstag“ der Unesco mit 50 Teilnehmern aus einem Dutzend mehr oder weniger bekannter Organisationen aus Gesundheitswesen und Gesellschaft statt, darunter die Französische Föderation der Versicherungsgesellschaften und EuropaBio, der Zusammenschluss der bedeutendsten europäischen Pharmaunternehmen. Unzureichend, dass heißt zu eng gefasst, erschien „im Licht der laufenden Forschung“ den Teilnehmern die Liste der unterschiedlichen Anwendungszwecke, zu denen menschliche Gendaten gesammelt, verarbeitet, benutzt oder gelagert werden dürfen. Zudem müsse eine künftige Deklaration sich vor allem mit Eigentumsrechten an menschlichen Gendaten – sprich: Patenten – befassen, als Teil der ökonomisch-kommerziellen Ressource „Genom“. Denn wie zuvor den Meeresboden und die Mondoberfläche erklärte bereits 1998 die Unesco-Deklaration zum menschlichen Genom das Erbgut des Menschen „symbolisch“ zum „gemeinsamen Erbe der Menschheit“ und damit völkerrechtlich zur gemeinsam zu bewirtschaftenden Sache.

Ursel Fuchs ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschienen ist von ihr: „Die Genomfalle – die Versprechungen der Gentechnik, ihre Nebenwirkungen und Folgen“, Patmos Verlag 2000