Atomunfall im Nuklearzentrum Marcoule: Ganz nah an der Rhône

Nach dem Unfall beschwichtigt das Atomenergiekommissariat, es sei "keinerlei Radioaktivität" nach außen entwichen. Polizei und Atomkraftgegner sind skeptischer.

Ein Spezialist überprüft vor der Atomanlage den Grad der radioaktiven Strahlung. Bild: dpa

PARIS taz | Dieses eine Mal konnten die französischen Behörden nicht wie sonst einen Vorfall in einer der so zahlreichen Atomanlagen mit der üblichen Formulierung "für Menschen, Umwelt und Natur unschädlich" verharmlosen. Der tragische Grund dessen ist die unmittelbare Opferbilanz: Einen Toten und mindestens einen Schwerverletzten hat es am Montag gegeben bei der Explosion in der mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle beschäftigten Fabrik Centraco.

Diese Anlage gehört der Firma Socodei, einer Tochterfirma des französischen Energiekonzerns und AKW-Betreibers Electricité de France (EDF). Sie steht auf dem Gelände des Nuklearzentrums Marcoule im unteren Rhonetal in der Nähe der Städte Orange und Avignon, mitten in einem für den Tourismus und den Weinbau attraktiven Gegend.

Obschon das staatliche Atomenergiekommissariat CEA sofort mitteilte, es sei "fürs Erste" keinerlei Radioaktivität nach außen entwichen, warnten Polizei und Feuerwehr davor, dass es zu Strahlenschäden kommen könnte. Sie richteten aus diesem Grund auch eine "Sicherheitszone" um die Anlage herum ein, damit Anwohner oder Unbefugte auf Distanz bleiben.

Angesichts der widersprüchlichen Informationen teilte die französische Atomschutzbehörde ASN auf dem Regionalsender France 3 mit, es bestehe "die Möglichkeit sehr schwacher radioaktiver Austritte, aber ohne radioaktive Belastung der Luft". Das war eine wichtige Präzisierung, weil zum fraglichen Zeitpunkt der Wind in Richtung der nur 30 Kilometer südlich gelegenen Stadt Avignon wehte.

Die Centraco war von der ASN nach Inspektionen mehrfach gemahnt worden, die Sicherheitsbestimmungen ernster zu nehmen. Bei einem Routinetest im vergangenen Mai wurde eine Funktionsstörung festgestellt, die "einen Ausfall des Brandalarms in der Verbrennungseinheit nach sich zog".

Personal erst spät alarmiert

Warum es in diesem Verbrennungsofen, in dem hauptsächlich schwach verstrahlte Handschuhe, Schutzanzüge von Beschäftigten in anderen Anlagen und weitere aus verschiedensten Materialien bestehende Abfälle entsorgt werden, zu dieser Explosion kommen konnte, war dennoch vorerst nicht bekannt. Betroffen war offenbar ein Ofen, in dem vor allem metallische Rückstände eingeschmolzen werden.

Eine Person, die sich in der Nähe des Schmelzofens befand, wurde auf der Stelle getötet, eine andere mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus von Montpellier eingeliefert; drei weitere Beschäftigte erlitten leichtere Verletzungen. Nach Angaben der Rettungskräfte wurde das Gebäude selbst nicht schwer beschädigt. Obwohl sich die Explosion um 11.45 Uhr ereignet habe, sei das Personal in den übrigen Anlagen erst gegen 13 Uhr alarmiert und in einem Schutzraum in Sicherheit gebracht worden, meldete das Onlineportal von 20 minutes unter Berufung auf telefonische Berichte von Betroffenen.

Die grüne Präsidentschaftskandidatin Eva Joly forderte eine sofortige und transparente Aufklärung des Vorfalls sowie Informationen: "Sechs Monate nach der Katastrophe von Fukushima veranschaulicht dieses Unglück, wie inakzeptabel das Risiko ist, das die Atomkraft für das menschliche Leben darstellt. Die Energiealternativen existieren, die Stunde des Ausstiegs aus der Nuklearenergie hat geschlagen", sagte sie in einer Stellungnahme.

Sicher ist, dass der spektakuläre Unfall von Marcoule, auch wenn er auf die Industrieanlage begrenzt blieb, den Argwohn selbst in einer "Nuklearnation" wie Frankreich schürt. Seit Fukushima wünschen mehr als 60 Prozent den sofortigen oder langfristigen Ausstieg und die Umstellung der Versorgung auf andere und wenn möglich erneuerbare Quellen.

"Sehr besorgniserregend"

Besonders besorgniserregend ist das Unglück von Marcoule, weil in dieser Anlage verschiedenste Produktions-, Versuchs- und Entsorgungsanlagen konzentriert sind. Einige davon sind bereits stillgelegt und werden allmählich entsorgt, was zum Teil noch Jahrzehnte dauern dürfte. Im Komplex Marcoule wurde ab den 1950er Jahren das spaltbare Material für die Atombomben der "Force de frappe" entwickelt.

Neben der von dem Unglück betroffenen Fabrik Centraco stehen aber auch der allererste Neutronenbeschleuniger oder schnelle Brüter "Phénix" (nicht zu verwechseln mit dem größeren "Superphénix" von Creys-Malville) sowie die Plutoniumwerke der Firma Melox, in der "MOX", ein Gemisch aus Uran und Plutonium für Brennstäbe der Reaktoren, hergestellt wird.

Charlotte Mijeon vom Dachverband der französischen Atomkraftgegner "Sortir du Nucléaire", sagte auf Anfrage, das Unglück sei "sehr besorgniserregend". Denn diese Anlage liege "auf einem der größten Nuklearkomplexe Frankreichs, wo äußerst gefährliches spaltbares Material gelagert wird. Auch wenn in der betroffenen Fabrik selber kein Plutonium verarbeitet wird, sind wir doch sehr besorgt wegen der grundsätzlich vorstellbaren Kettenreaktion in Bezug auf die anderen Anlagen. Zum Dritten befürchten wir radioaktive Strahlung für die Umwelt."

Sie gibt zu bedenken, dass die Rhône nur 200 Meter und die Kleinstadt Orange mit rund 30.000 Einwohnern nur sieben Kilometer entfernt seien. Falls also Radioaktivität in der ein oder anderen Form entweichen sollte, gelange diese in kürzester Zeit in bewohntes Gebiet. "Sortir du Nucléaire" kritisiert ebenfalls Innenminister Claude Guéant, der beschwichtigend meinte, es handle sich da nicht um ein "nukleares" Problem, sondern um einen letztlich banalen "Industrieunfall".

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